Mit dem Frühling 2020 startete nicht nur die unliebsame Geschichte eines Virus' namens COVID-19, die Jahreszeit stand auch im Zeichen des Genres "Doku-Serie". Denn ab Mitte März bot der Streamingdienst Netflix die siebenteilige Geschichte "Tiger King: Murder, Mayhem and Madness" über den blondierten Wildkatzenliebhaber Joe Exotic und seinen "Greater Wynnewood Exotic Animal Park" in Oklahoma an - ESPN legte ab Mitte April mit der zehn Episoden umfassenden Sportlerdoku "The Last Dance" über den Gewinn der sechsten NBA-Meisterschaft von Michael "Air" Jordans "Chicago Bulls" innerhalb von acht Jahren nach.

Neben den in Deutschland dominierenden Themen wie "Welcher Drogeriemarkt wird wann wieder mit Klopapier beliefert?", sowie der Mehl-, Desinfektionsmittel- und Nudelknappheit entfachte sich eine Faszination über die beiden Produktionen, die unter normaleren Umständen Gesprächsthemenlieferanten bei Geburtstagsgesellschaften, auf Schulhöfen, oder beim Schlürfen am Water Cooler im Büro gewesen wären. Der Buzz war immens und der Austausch erfolgte Pandemie bedingt verstärkt über digitale Kanäle oder das bis dato schon längst vergessene Telefongespräch.

 

Auch wenn Netflix immer noch ein großes Geheimnis aus seinen genauen Abrufzahlen macht, kursierte laut Marktforschungsunternehmen Nielsen ein Wert von über 34 Millionen Zuschauern innerhalb der ersten zehn Tage nach Veröffentlichung von "Tiger King". Um das mal ins Verhältnis zu setzen: damit toppte man den Vergleichswert der zweiten Staffel der sehr erfolgreichen Serie "Stranger Things" und befand sich auf Augenhöhe mit der dritten. Die true-crime-ige Serie über den selbst ernannten Tiger King zählt zu den erfolgreichsten Eigenproduktionen überhaupt und ist damit Teil des Netflix-Olymps. Wenig überraschend also, dass das kulturelle Phänomen in einem anderen Genre weitererzählt werden soll. Aktuell befinden sich zwei Serien - unter anderem eine mit Nicolas Cage als Vokuhila-Träger - in der Entwicklung.

Bei ESPN klatschte man auch mit Händen und Füßen. Die Doku-Serie über die in der Regel als bester Basketballer der NBA-Geschichte bezeichnete Ikone erzielte – sicherlich befördert durch den Mangel an Live-Sport - über alle Folgen hinweg im Schnitt 5,6 Millionen Zuschauer. Absoluter Rekord und damit die erfolgreichste ESPN-Doku aller Zeiten. Außerhalb der USA war auch die Jordan-Doku Teil des Netflix-Portfolios. Angeblich riefen über 23 Millionen innerhalb der ersten vier Wochen die vorhandenen Folgen ab.

Und so stehen sich nun im Rennen um die Krone in der Kategorie "Outstanding Documentary or Nonfiction Series" zwei intensiv besprochene Produktionen gegenüber, deren Protagonisten unterschiedlicher nicht sein könnten. Einer, der in den 90er Jahren die Chicago Bulls vom Verliererteam zum Champion machte und getrieben vom Wunsch in einem Atemzug mit Larry Bird und Magic Johnson genannt werden zu wollen, zwischen Kabinentyrann, Trainingsmonster und Übermensch changierte. Einer, der die Verwirklichung des American Dream im Ballsport sah und fand. Einer, für den ähnlich wie beim Tenniskünstler Roger Federer, frei nach David Foster Wallace zitiert, physikalische Gesetze nicht gelten und bei denen man die Metaphysik heranziehen muss. Hoch springen und sich länger in der Luft halten galten als DAS Markenzeichen des Bullen. Jordan gegen die Schwerkraft? Sein Credo: "Alle gegen mich und ich gewinne".

Wo bei dem heutigen einzigen schwarzen Besitzer eines NBA-Teams Ehrgeiz, Talent und Siegeswillen auf dem Platz dominierten, findet sich beim Hauptkonkurrenten im Ring einer mit Ehrgeiz, Übermut und Selbstüberschätzung. Einer, bei dem der Look ungewollt hip ist. Einer, bei dem die Waffe immer einen Handgriff entfernt ist. Einer, der viel will, es aber trotz seines Erfindungsreichtums letztlich nicht kann. Jordan ist der Größte – der König der Tiger wähnt sich als der Größte. Konflikte gibt es zwar bei "The Last Dance" auch zuhauf und der Weg zu den sechs Meisterschaften mit zwei Jahren Unterbrechung ist alles andere als geradlinig, allerdings steckt das Scheitern der Story des "Tiger King" bereits im Anfang, wenn sich der Mann mit dem Künstlernamen Joe Exotic aus dem Gefängnis meldet, weil er des Auftragsmords an Carole Baskin schuldig gesprochen wurde. 

"Tiger King" ist die volle Ladung white trash, ein wilder Mix aus "Nashorn, Zebra & Co." auf LSD, "Big Brother" und "Aktenzeichen XY...ungelöst". Die Gefahr geht dabei weniger von den Wildtieren als vom Großteil der sich im Wildkatzenuniversum befindlichen Figuren aus. Sein Größenwahn bringt ihn sogar so weit, dass er neben seinem Privatzoo mit mehr als 200 Wildtieren, den Tätigkeiten als Tierzüchter- und Verkäufer, Fernsehmoderator und Countrysänger auch noch eine politische Karriere anstrebt. Am liebsten natürlich Präsident der Vereinigten Staaten. Er ist mehr Donald Trump – Jordan mehr Barack Obama.

Was die beiden Könige ihrer Koordinaten jedoch eint, ist das Vertrauen in den amerikanischen Traum. Auch bei Joe Exotic ist das der Nährboden, auf dem er sich bewegt. Ein gewisses Charisma lässt sich ihm ebenso wenig absprechen. Und so absurd es klingt, aber beide wären nichts ohne ihre Entourage und das Publikum. Denn nicht zuletzt benötigt auch Joe Exotic die Einnahmen aus dem Park. Was am Ende beider Produktionen jedoch bleibt, ist das Scheitern des Tiger Kings und das "Repeat Three-Peat" beim letzten Tanz - die Wiederholung von drei NBA-Titeln in Folge und damit der maximale Erfolg.

Apropos Titelgewinn in Folge: die Kategorie besteht natürlich nicht nur aus zwei Nominierten, sondern aus fünf. Mit von der Partie ist dabei auch "American Masters" von PBS, welches die Kategorie schon zwei Mal hintereinander gewann – und das 3 Mal. Sie wandert also auf den Spuren der "Chicago Bulls", oder umgekehrt, und ist seit Jahren Dauergast unter den Nominierten. Hinzu kommt die fast-präsidiale Figur Hillary Clinton in "Hillary" (Hulu), die "The Office"-Produzent Ben Silverman in Szene setzte. Und auch Mark Wahlberg mischt mit "McMillion$" (HBO) über den Betrugsskandal der Monopoly-Aktion von McDonalds mit. Klar ist jetzt schon: Nachdem in den letzten drei Jahren zwei Siege auf die Konten von Naturdokus gingen, wird 2020 ein anderer Wirklichkeitsausschnitt ausgezeichnet werden. Ob His Airness wirklich mit dem Tiger King ringt, oder ob eine andere Produktion das Rennen macht, zeigt sich in der Nacht zu Sonntag.