Shiri ist aufbrausend, reizbar, cholerisch. Mal weniger wie an einem ganz gewöhnlich miesen Schultag, mal mehr bei ihrer Entführung im Anschluss, aber im Grunde bleibt Shiri stets auf 180. Sechs Wochen zuvor gerät die jähzornige Schauspielerin beim Theater-Casting sogar auf Kommando außer sich, wofür sie bei einem Streit im Nebenjob keine Aufforderung braucht. Shiri gleicht schließlich einem Pulverfass, das ist vom Beginn der Vox-Serie "Rampensau" an gut zu sehen. Vor allem aber ist es sehr gut zu hören. An der Musik.
Denn wann immer dieser wandelnde Vulkan vor sich hin brodelt, wann immer Jasna Fritzi Bauer also das eruptive Gemüt ihrer Figur in Wallung bringt, wird deren Gefühlschaos so klug vertont, dass es fast keiner Worte zur Erklärung bedarf. Gemeinsam mit der Schweizer Songwriterin Sophie Hunger hat die niedersächsische Filmkomponistin Tina Pepper der Rampensau nämlich den perfekten Sound verpasst. Und wer dem vollsynthetischen Technomix lauscht, den sie der Hauptfigur "angelehnt an elektronische Untergrundmusik" mit viel HipHop aufs Nervenkostüm schneidert, wird den Juroren des Deutschen Fernsehpreises beipflichten: In der Kategorie Musik gibt es 2020 keine ernsthaften Gegner.
Außer Annette Focks und Martina Eisenreich. So heißt Peppers weibliche Konkurrenz um eine Auszeichnung, die dank Corona digital verliehen wird und auch sonst beispiellos ist. Nachdem Filmmusik wie die meisten Gewerke abseits von Neben- und Hauptdarstellerinnen beim Deutschen Fernsehpreis lange Zeit fest in Männerhand war, stehen erstmals nur Frauen zur Wahl – von denen eine den Titel sogar verteidigen könnte: Annette Focks.
Obwohl ihr Soundtrack zum ARD-Melodram "Lotte am Bauhaus" ab und an klavierbetupft über den Geigenteppich läuft, hält er sich wie die Beiträge ihrer Mitbewerberinnen angenehm zurück. Und das ist verglichen mit dem Mainstream ein Quantensprung – auch für Emanzipation und Gleichberechtigung. "Unsere Nominierung", sagt die Titelverteidigerin gegenüber DWDL, "setzt ein wunderbares Zeichen, dass es in Deutschland talentierte und erfolgreiche Komponistinnen gibt, die mit ihrer Begabung und Professionalität den männlichen Kollegen ebenbürtig sind".
Doch was heißt hier ebenbürtig?
Während sich das akustische Begleitelement seit Jahrzehnten mit jedem dauerbeschallten Blockbuster vor die bewegten Bilder drängelt, beweisen alle Fernsehpreisanwärterinnen 2020 Mut zur Lücke, ohne sich darin zu verstecken. Sofern sie was zu erzählen habe, urteilt der komponierende Branchenkritiker Matthias Frey, muss "gute Filmmusik nicht zwingend im Hintergrund bleiben". Denn während gerade Fernsehserien "in der Regel uninspiriert aus dem Rechner zugeschüttet" und daher "auch weggelassen werden" könnten, verstärke "ein inspirierter Soundtrack das visuelle Bild, ohne es zu dominieren".
Nicht nur, aber besonders in Deutschland beherrschen Soundtracks demnach nur zwei Schrittfolgen: Trippeln und Trampeln. Während sie das Gezeigte im besseren Fall unmerklich begleitet, marschiert ihr Sound im schlechteren sturmtruppenartig darüber hinweg. Ersteres ist tendenziell Arte zu eigen, letzteres eher RTL, dazwischen aber sind mittlerweile häufiger mal Grautöne hörbar – meisterhaft eingefügt von den Musikpreis-Kandidatinnen 2020. Weil sie sich trauen. Mehr aber noch, weil man sie lässt.
Aufgrund der Konkurrenz durch die Streamingdienste, erklärt Tina Pepper das akustische Geleit ihrer Rampensau, "sind viele Fernsehproduktionen mutiger geworden". Noch vor zehn Jahren, als die Nachwuchskomponistin von der Werbung ins Fernsehen wechselte, "wäre ein Projekt wie dieses in der Form vermutlich nicht möglich gewesen". Auch Martina Eisenreich, nominiert fürs Klanggerüst der ZDF-Filme "Endlich Witwer" und "Zeit der Wölfe", lobt daher die neue Offenheit für alte Tugenden eines ehemals hochverehrten, einst sogar von Orchestern begleitet, mittlerweile jedoch vielfach vulgär verkleisterten Fachs.
Vor der Fernsehpreis-Reform 2016 war es überhaupt nicht mehr prämiert worden. Langsam jedoch merken zumindest die Redakteure des öffentlich-rechtlichen Gremienprogramms, dass die Musik den Ton macht. Es herrscht neue Wertschätzung ihrer Kunst, beteuern alle Preisanwärterinnen. Auch Martina Eisenreichs Klangwelt wurde daher "nicht erst im Nachhinein hinzugefügt", wie die klassisch ausgebildete Multiinstrumentalistin aus Bayern den Standardumgang mit Soundtracks kritisiert, "sondern durfte sich gemeinsam mit der Bildebene während des Montageprozesses entwickeln". Und welche Wirkungstreffer dieses Hörerlebnis beim Sehen erzielt, kann man an beiden Scores der bayerischen Multiinstrumentalistin hören.
Als ein maulfauler Misanthrop (Joachim Król) darin nach der Beerdigung seiner verhassten Frau sagt, "es geht mir gut, ich hab endlich meine Ruhe", mündet Deep Purples aufwallender Krautrock "Child in Time" so exakt in den eingeblendeten Titel "Endlich Witwer", als wäre er Teil der Handlung, nicht des Soundtracks. An Stringenz, Präzision und Passgenauigkeit ist dieser Einsatz sogar noch schlüssiger als im Spreewaldkrimi "Zeit der Wölfe", den Martina Eisenreich ebenfalls für die Regisseurin Pia Strietmann vertonte. Noch besser funktioniert die Symbiose allerdings bei Tina Pepper.
Ihr sperriger, atmosphärisch drastischer Geräuschteppich hält perfekt die Balance zwischen Trippeln und Trampeln. Wenn so ein Score als preiswürdig gilt, bedeute es für die Verantwortliche, "dass ich und meine Arbeit ebenso wahrgenommen und anerkannt werden wie Filmmusik in Deutschland insgesamt". Ein Beleg dafür ist der Deutsche Filmmusikpreis, den die Acadamy of Media and Arts seit 2014 vergibt. Zwei Jahre später übrigens hat ihn Peppers Konkurrentin Eisenreich gewonnen. Mit Mut zur Lücke, Freude am Experiment, Respekt vor dem Bild oder wie es Annette Focks ausdrückt: "Filmmusik ist wie ein musikalischer Geruch, der über allem liegt." Im Fall dieser drei Kandidatinnen riecht er dezent und kräftig zugleich.