Blickt man auf die in diesem Jahr nominierten Beiträge für den Deutschen Fernsehpreis, fällt vor allem in der Kategorie Information auf, wie viel sich in den zurückliegenden Monaten verändert hat. Kritisierten Dokumentarfilmer in der Vergangenheit oft die fehlenden Sendeplätze und schlechte finanzielle Ausstattung durch die klassischen Fernsehsender, sieht die Sache heute ganz anders aus. Befeuert durch die Streamingdienste gibt es einen regelrechten Boom an dokumentarischen Formaten - und auch die Fernsehanbieter stellen sich diesem Wettbewerb.

Durch die neue Konkurrenz hat sich der Markt zuletzt spürbar belebt. Das wurde nicht zuletzt auch sichtbar durch zahlreiche Firmengründungen im Doku-Bereich (DWDL.de berichtete). Und auch bei den Fernsehpreis-Nominierungen macht sich der Informations- und Doku-Boom bemerkbar. Auffallend: Dokumentarisches Erzählen ist inzwischen nicht mehr nur auf kurze Filme begrenzt. Inzwischen zählt auch Länge, wie die Einführung der Kategorie Beste Doku-Serie beweist. Hier treten mit "Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit", "Höllental - Der Fall Peggy Knobloch" und "Charité intensiv – Station 43" drei Reihen an, die sich Zeit nehmen, um ihr jeweiliges Thema zu beleuchten. 

Aber auch im Bereich der Besten Dokumentation/Reportage zeigt sich ein Trend hin zu mehr Sendezeit, fast alle nominierten Filme sind 90 Minuten lang. Und selbst in der Kategorie Infotainment dominieren lange Stücke. An vorderster Front natürlich die siebenstündige Pflegedoku von ProSieben, aber auch RTL hat sich in der Sendung "Angriff auf unsere Kinder und was WIR dagegen machen können!" einen ganzen Abend Zeit genommen, um die Sicherheit von Kindern im Netz zu besprechen. 

Christian Beetz © Gebrüder Beetz Filmproduktion Christian Beetz
Die Länge ist natürlich kein Selbstzweck. Mit ihr einher geht im Idealfall auch ein Mehr an Tiefe. "Die Doku-Serie boomt förmlich und es freut uns ungemein, dass dies nun auch bei den ersten deutschen Filmfestivals und Wettbewerben entsprechend reflektiert wird", sagt Dokumentarfilmer Christian Beetz, Geschäftsführer der Gebrüder Beetz Filmproduktion (nominiert für "Rohwedder – Einigkeit und Mord und Freiheit"), im Gespräch mit DWDL.de. Gerade bei den horizontal erzählten Doku-Serien würde es aber nicht nur auf die Länge ankommen, sagt Beetz. Es gehe vor allem um die Qualität des Erzählens. "Die Langform war und ist dramaturgisch extrem herausfordernd und genau hier helfen Wettbewerbe als Orientierung. Es ist großartig, dass der Deutsche Fernsehpreis hier als Vorreiter mit der neuen Kategorie Information Doku-Serie voranschreitet." Beetz sieht die Langform im dokumentarischen Film grundsätzlich als ein Gegentrend zu der Kurzform in den sozialen Netzwerken. 

Lineares Fernsehen soll flexibler werden

Leopold Hoesch © Broadview Leopold Hoesch
Leopold Hoesch, Geschäftsführer von Broadview TV (nominiert für "Schwarze Adler" und "Hallo, Diktator – Orbán, die EU und die Rechtsstaatlichkeit"), sagte noch vor einem Jahr, dass eine Chance vertan werde, wenn keine Dokumentarfilmoffensive komme. Heute blickt er zufrieden zurück auf das vergangene Jahr - die Offensive ist gekommen. "Wettbewerb belebt das Geschäft und meine Hoffnung ist, dass der deutschen Dokumentarfilm und die Dokumentation auch außerhalb der Grenzen Deutschlands noch mehr wahrgenommen wird", sagt Hoesch gegenüber DWDL.de. Er sei ein Freund von Online First und Filmlängen, die sich an den Vorgaben des linearen Fernsehens nur orientieren, sagt der Dokumentarfilmer. "Das Word of Mouth kann man kaum besser befeuern und die erste lineare TV-Ausstrahlung so befördern. In den Mediatheken oder den Mediendiensten spielt die Länge des Films keine Rolle", so Hoesch, der gleichzeitig fordert, dass das lineare Fernsehen vor allem bei herausragenden Projekten flexibler sein sollte. Grundsätzlich komme es bei der Länge immer auf Stoff und Erzählweise an.

"Das Wachstum der Streamer und der große Programm-Bedarf für ‘jedermann’ sind sicher ein Grund, warum längere Formate wie Dokuserien inzwischen gut funktionieren."
Andreas Banz, Geschäftsführer der Kundschafter Filmproduktion 

Andreas Banz © Kundschafter Filmproduktion Andreas Banz
Der neue Doku-Boom ist zurückzuführen auf den starken Wettbewerb in diesem Segment. "Das Wachstum der Streamer und der große Programm-Bedarf für ‘jedermann’ sind sicher ein Grund, warum längere Formate wie Dokuserien inzwischen gut funktionieren", sagt Andreas Banz, Geschäftsführer der Kundschafter Filmproduktion (nominiert für "Höllental - Der Fall Peggy Knobloch", betreut von Matthias Miegel und Dirk Engelhardt) im Gespräch mit DWDL.de. Dass die Öffentlich-Rechtlichen mit ihren Mediatheken nun nachziehen, erweitere die Nachfrage zusätzlich. "Tendenziell wird die Auswertbarkeit in der Mediathek vermutlich eine immer größere Gewichtung bekommen im Vergleich zur linearen Ausstrahlung. Und das stärkt natürlich serielle und damit längere Formate", sagt Banz. Der Kundschafter-Chef spricht auch von positiven auf die gesamte Doku-Branche, "deren Zukunft vor ein paar Jahren noch nicht so gesichert schien". Auch Christian Beetz sagt, die internationalen Streamer seien "wichtige Treiber" für die Doku-Filmer. 

Die neuen Anstrengungen der privaten Anbieter, nicht nur die der klassischen Streaminganbieter, lassen sich übrigens auch sehr gut an den Fernsehpreis-Nominierungen erkennen. Auf satte zehn Nominierungen bringen es die Privaten - und hierzu zählt neben Amazon und Netflix eben auch TVNow. Ein Jahr zuvor waren es nur vier. Hinzu kommt die Tatsache, dass mit Sky, Amazon und ProSieben gleich drei private Anbieter in der Königskategorie Beste Dokumentation/Reportage nominiert sind. Die in dieser Kategorie besprochenen Themen sind breit: Es geht um Wirecard, Rassismus im Fußball, Rechtextremismus in Deutschland, die Auswirkungen des Klimawandels auf Rentiere oder die Rechtsstaatlichkeit in Ungarn. 

"Mir macht die Crime-Euphorie etwas Sorge"

Und trotz, oder gerade vielleicht wegen des Booms, legt Broadview-Geschäftsführer Leopold Hoesch den Finger in die Wunde. "Mir macht die Crime-Euphorie etwas Sorge", sagt er gegenüber DWDL.de. Schon in der Fiction habe dieser Trend den Markt stark geprägt - und zuletzt gab es auch immer mehr True-Crime-Formate. "Jedes Mal wenn man den Fernseher anmacht wird einer umgelegt auf allen Kanälen. Ich würde mir wünschen, dass die Doku-Branche stärker ist und sich nicht an dieser low hangig fruit überfrisst." 

Informations- und besonders Dokumentations-Programme sind im Jahr 2021 gefragt wie nie. Das zeigt natürlich auch die XXL-Pflegedoku, die ProSieben im Rahmen der 15 Live-Minuten von Joko und Klaas umgesetzt hat. Nach der Ausstrahlung wurde breit über das Thema debattiert - sogar im Bundestag. Auch "Markus Lanz", nominiert in der Kategorie Beste Information, hat in den zurückliegenden Monaten wohl so viele Schlagzeilen erhalten wie kaum eine Talkshow zuvor und ist damit Teil der Informations-Offensive der vergangenen Monate.