Frau Schiele, wäre „Kevin Kühnert und die SPD“ ohne die ARD-Mediathek überhaupt möglich gewesen?

Wir, also Lucas Stratmann, unser Redakteur Timo Großpietsch und ich, hatten das ursprünglich nicht als Serie angelegt. Wir haben erstmal angefangen um dann zu schauen, was draus wird. 60 Minuten sollten wir hinkriegen, vielleicht werden es 90 Minuten. Nach einem Jahr - als wir angefangen haben das erste Material zu sichten und sortieren - haben wir gemerkt, dass wir wirklich viel gutes Material haben und auf mehr als 90 Minuten kommen würden. Welchen Sendeplatz das dann im Fernsehen bekommen würde, ist eh immer so eine Sache. Also dachten wir: Das könnte doch etwas für die ARD-Mediathek werden, seriell erzählen ließ sich das schließlich ganz gut. Und dann war das ein gedankliches Ping-Pong zwischen dem Luxus, nicht auf eine Sendeplatz-Limitierung achten zu müssen und allein nach Materiallage entscheiden zu können einerseits und andererseits der Frage: Wie viel wollen die Leute sehen von dieser SPD und dem Juso-Vorsitzenden? Man darf ja nicht vergessen: Die SPD war damals am Boden.

 

 

War es auch eine Umstellung in der journalistischen Arbeit, wenn man nicht verdichten muss sondern seriell erzählen und damit ja irgendwie auch unterhalten muss, damit das Publikum dran bleibt?

Verdichten mussten trotzdem, wir hatten ja über 200 Stunden Material. Aber auf jeden Fall war das für uns eine ganz neue Form des Arbeitens, was aber unserem Anliegen in die Karten gespielt hat: Wir wollten Politik und den Politikbetrieb als solchen für ein breites Publikum erlebbar machen und im besten Sinne unterhalten ohne dafür boulevardesk zu werden. Und da ist es dankbar, dass es in der Mediathek die Freiheit gibt, sich unabhängig von strikter Formatierung die Zeit zu nehmen, die man braucht um auch noch mehr Grautöne und Ambivalenzen zuzulassen. 

Das wirft natürlich auch die Frage auf: Wie viele gute Programme wurden bisher leider einfach nicht entdeckt, weil es eben dann Mitternacht in den Dritten war und die Mediathek noch keine Rolle spielte?

Völlig richtig. Für kein anderes Genre ist die Mediathek so wertvoll wie für den Dokumentarfilm, der hier unabhängig von Sendeplätzen gefunden werden kann und dankeswerterweise ja oft sehr prominent platziert ist. Noch dazu insbesondere für längere Projekte: Wer würde sich eine Doku-Serie im linearen Fernsehen anschauen, wo sich schon zugespitzte fiktionalen Serien schwer tun? In der ARD-Mediathek finden sich gebündelt viele gute Dokumentarfilme, die im Linearen oft nicht die besten Sendeplätze erhalten haben. Diese Sichtbarkeit ist für den Dokumentarfilm eine riesige Chance darauf, dass sich aufwändige Produktionen nicht mehr nur eine lineare Ausstrahlung haben.

 

Zur Person

  • Katharina Schiele ist Journalistin und Filmemacherin, die nach ihrem Volontariat beim NDR 2016 als freie Autorin für das ARD-Politmagazin "Panorama" begann sowie an mehreren Dokumentarfilmen mitwirkte, darunter das ebenfalls für den Deutschen Fernsehpreis nominierte "Wie Gott uns schuf". "Kevin Kühnert und die SPD" gewann bereits den Axel-Springer-Preis in Gold und war für den Grimme-Preis nominiert. Beim Deutschen Fernsehpreis ist die Serie als Gesamtwerk, für den besten Schnitt und die beste Kamera nominiert.

 

Spielt die Diskussion um Sendeplätze für das Dokumentarische im linearen Programm also keine große Rolle mehr?

Für „Kevin Kühnert und die SPD“ gilt das, aber es gibt auch andere Programme und da würde ich weiter für prominente Sendeplätze kämpfen. Nehmen Sie beispielsweise „Wie Gott uns schuf“, da haben wir das Projekt einerseits in der ARD-Mediathek aufwendig aufbereitet mit zahlreichen Einzelinterviews, aber andererseits war hier auch der Sendeplatz für den Film sehr wichtig. Das hängt mit dem Anliegen und der Zielgruppe zusammen, die man erreichen will: Die katholische Bubble ist eher älter und im Medienkonsum konservativer unterwegs. Bei diesem Thema half auch die gesammelte publizistische Kraft der ARD, die das Thema vorher und nachher auf verschiedenen Kanälen aufbereitet hat. Hier geht es um das Aufdecken eines Missstandes und das Anstoßen einer Debatte während „Kevin Kühnert und die SPD“ einen zeitloseren Charakter hat.

Die normale Fernsehlehre nach dem Erfolg von „Kevin Kühnert und die SPD“ wäre: Mehr davon! Gab es den Wunsch seitens des Senders oder gar anderer Politiker, die sich beworben haben?

Man darf die Bereitschaft von politisch aktiven Persönlichkeiten, sich so intensiv und lange von Journalistinnen und Journalisten mit der Kamera begleiten zu lassen, nicht überschätzen. Und für alles, was wir in diese Richtung nachlegen würden, wäre das der Maßstab. 

 

Das hätte auch die Doku-Serie vom Ende einer Volkspartei werden können

 

Und auch die Einblicke in den Politikbetrieb würden sich ja mitunter doppeln und wiederholen…

Wobei ich glaube, dass das immer noch interessant wäre. Aber vielleicht liegt das auch daran, dass ich Politikjunkie bin. Die größere Herausforderung läge darin, nochmal eine Person von der Relevanz zu finden, die uns so nah ranlässt. Und dann geht es ja nicht nur um eine einzelne Person. Wir wollten ja kein klassisches Portrait machen, sondern dadurch ja auch entscheidende Jahre einer strauchelnden SPD dokumentieren. Das hätte auch die Doku-Serie vom Ende einer Volkspartei werden können und bis kurz vor Schluss dachten wir noch, dass die Doku-Serie kein gutes Ende für diese Heldenreise bekommen wird. 

Wie schafft man es, als Journalistin nicht zum Fan des eigenen Protagonisten zu werden, der am Ende mit der Partei so eine Aufholjagd hinlegt? Oder jubelt man dann doch für diesen anfangs undenkbaren Ausgang des langjährigen Projekts mit?

Das ist eine Herausforderung, die uns beiden - Lucas und mir – von Anfang an sehr klar war. Wir mussten immer aufpassen, dass wir die kritische Distanz zu Kevin Kühnert und auch zur SPD nicht verlieren. Inhaltlich wie persönlich. Ob uns das gelungen ist, müssen andere beurteilen. Aber was Lucas und mir sehr geholfen hat, war die Tatsache, dass wir über die Laufzeit dieses Projekts parallel an anderen Filmen und Sendungen gearbeitet haben, ich u.a. bei „Panorama“. Damit gab es die Gefahr des Tunnelblicks vielleicht etwas weniger. Auch unsere Redakteure Timo Großpietsch und Christoph Mestmacher haben da sehr mit drauf geachtet. Was uns im Film inhaltlich half Kevin Kühnerts Aussagen in der Serie einzuordnen, waren immer wieder eingebauten Medienechos. Das war ein Realitätscheck für manche seiner Aussagen und Kontra von der Gegenseite, wenn wir von Kühnert seine Sicht auf politische Themen gehört haben. Das war ein Weg, den wir gewählt haben weil wir keinen vermittelnden Sprecher-Text aus dem Off wollten.

Wir erleben gerade den Abgesang auf den alles einordnenden Off-Text. Stattdessen wird Material inzwischen oftmals präziser montiert, so meine Auffassung. So auch z.B. bei „Schwarze Adler“, was 2021 den Deutschen Fernsehpreis für beste Dokumentation erhielt.

Das schaue ich mir auch lieber an, aber natürlich ist die wichtigste Prämisse für eine Filmemacherin: Verliere dein Publikum nicht. Es nützt nichts, wenn man die reine Lehre ohne jeden Off-Text bietet aber die Zuschauerinnen und Zuschauer nicht mehr mitkommen. Uns hat es geholfen, dass wir so enorm viel Material hatten, wobei Kevin Kühnert auch sehr unterschiedlich gewirkt hat. Damit konnte man diese verschiedenen Facetten für einen differenzierten Blick allein durch das szenische Material transportieren ohne dass ein Off-Text erklären müsste „Auch das ist Kevin Kühnert“ oder „Kevin Kühnert zog sich enttäuscht zurück“. Wir hatten die Bilder, so dass das Publikum sich selbst ein Urteil machen konnten. 

 

Katharina Schiele © NDR

 

Aus dem Vollen schöpfen können, sagt sich nachher so toll. Erstmal steht man vor einem Berg an Material. Daraus Bilder so zu montieren, die für sich sprechen, ist Verdienst des ebenfalls nominierten Schnitts von Andreas von Huene und Yütte Reischmann…

Und über die Nominierung für die Beiden haben wir uns sehr gefreut, weil die angesichts der Menge an Material wirklich übermenschliches geleistet haben. Die beiden stehen auch für eine ganz bestimmte Art von Editoren. Das sind bei einem solchen Projekt im Grunde Co-Autoren mit einer größeren Distanz zum Material, die ganz maßgeblich darüber entscheiden, welche Geschichte wir wie erzählen können. Sie waren für uns die erste Feedback-Schleife, sozusagen der erste Spiegel für das, was wir uns vorgestellt haben. Was funktioniert? Was zündet nicht? Sie brachten auch das dramaturgische Verständnis mit. Es gab zum Beispiel einige richtig reizvolle Szenen in die Lucas und ich verliebt waren, so richtige Darlings. Aber reingeschnitten funktionierten sie dann irgendwie nicht. Dann muss man sich ans 1x1 der Dramaturgie erinnern und leider auch mal feststellen: Das hilft vom Fortgang des Erzählten gerade gar nicht, trägt nichts zum Spannungsbogen bei. Wir erzählen hier seriell und das bedeutet nicht einfach nur Länge.

Sie haben die SPD zum Mittelpunkt einer langlaufenden Recherche gemacht als diese im Chaos zu versinken drohte. Bietet sich da jetzt nicht eine Dokuserie über den RBB an?

(lacht) Gute Idee, kann ich ja mal vorschlagen.

Haben Sie „Macht auf Zeit“ bzw. ursprünglich „Die Gewählten“ vom SWR gesehen?

Ja, habe ich.

Ist das noch inspiriert oder schon kopiert - gerade bei den Einblicken in den Politikbetrieb…

Die Kolleginnen und Kollegen haben ja mit den Recherchen und auch Dreharbeiten schon angefangen als wir unsere Serie noch gar nicht fertig hatten. Sie haben zeitweise parallel gedreht mit einer anderen Herangehensweise: Dort sind ja Reporter im On dabei. Ich sehe da keine Vergleichbarkeit, weil das Sujet zwar das gleiche ist aber die Formatierung doch eine völlig andere.

 

Als es dann rauskam, hing ich natürlich den ganzen Tag auf Twitter ab

 

Was war die überraschendste Reaktion auf das Projekt?

Ich war mir zuletzt nach all der Zeit die wir hier investiert haben, gar nicht mehr sicher ob es da draußen Menschen gibt, die sich so sehr dafür interessieren wie wir. Lucas war da der deutlich Zuversichtlichere und hatte da einen guten Instinkt für das Besondere unseres Materials. Als es dann rauskam, hing ich natürlich den ganzen Tag auf Twitter ab und Stefan Niggemeier war dann der erste, mit größerer Reichweite, der es geteilt hat und das fiel mir dann schon ein Stein vom Herzen. Das war nach der Premiere beim Filmfest Hamburg der zweite Moment an dem ich dachte: Sehr gut, wir haben uns nicht verrannt. Es finden auch andere Menschen interessant, sogar so interessant, dass sie es anderen Menschen weiterempfehlen. Und jedes weitere Feedback insbesondere der Art „Normalerweise interessiert mich Politik nicht, aber…“ war dann der schöne Beleg dafür, dass wir unser ursprüngliches Ziel erreicht haben.

Letzte Frage: Doku-Serien sind gerade allgegenwärtig, mit schwankendem Gehalt. Wie würden Sie eine gute Doku-Serie definieren? 

Ich glaube für eine gute Doku-Serie helfen vor allem zwei Dinge: Erstens eine geeignete Geschichte und zweitens wirklich erlebbares Material. Hat man eine Geschichte, die sowohl einen übergeordneten Spannungsbogen hat, als auch in sich abgeschlossene Handlungsbögen, liegt serielles Erzählen nahe. Ob sich das dann auch jemand anschaut hat sehr viel mit dem Material zu tun. Was dabei extrem hilft ist natürlich ein guter Zugang! Je mehr Material man hat, dass es dem Publikum wirklich ermöglicht dabei zu sein und je weniger man nacherzählen muss, desto leichter schaut es sich. 

Herzlichen Dank für das Gespräch, Frau Schiele.