Plötzlich steht der Mann aus dem Fernsehen im Treppenhaus, klingelt und zieht mit seinem Rollkoffer ein. Er hilft beim Pizzamachen, Stulleschmieren, Handtücherzusammenlegen, Zimmeraufräumen und Schränkeschrubben, spielt mit den Kindern Fußball, macht Hausaufgaben und übernachtet in der Gästeecke, während die Gastgeberin ihm erklärt, wie sich das anfühlt, zwei Haushalte mit acht Personen für 1.000 Euro im Monat über Wasser zu halten: "Wir ham's gelernt, aus Scheiße Bonbons zu machen."

(Ungefähr so wie das Fernsehen aus dieser Alltagsnot ein sendefertiges Programm.)

Am Montagabend zeigt Sat.1 "Jörg Pilawa: Plötzlich arm", für das der bekannte Sat.1-Moderator eine Woche in den Berliner Stadtteil Hellersdorf zieht, um dort mit dem Bürgergeld-Regelsatz über die Runden zu kommen.

Bislang prominentester Rollentausch

Die Reportage ist die jüngste Bemühung des deutschen Fernsehens, die Lebensumstände eines Teils seiner Konsument:innen zu dokumentieren – und allen anderen zu demonstrieren, wie herausfordernd es ist, sich dabei am Existenzminimum zu bewegen.

Promi-Selbstexperimente sind seit Jahren wiederkehrender Bestandteil dieses Bestrebens: Bereits vor zehn Jahren tauchte die damalige "Tagesschau"-Sprecherin Judith Rakers für die NDR-Reportagen "Schicksal obdachlos" und "Schicksal Armutsfalle" in für sie fremde Welten ein; RTLzwei absolvierte mit mehreren Reality-Stars "Prominent & Obdachlos – Gosse statt Glamour". Und wenn sich bei Sat.1 jetzt Jörg Pilawa für mehrere Drehtage in den Plattenbau schickt, um dort in karger Wohnungseinrichtung Zähne zu putzen, ist das zweifellos der bislang prominenteste Rollentausch im deutschen TV. (Oder wie's der Sat.1-Moderator selbst formuliert: "Herzlich willkommen und guten Abend zu einem – auch für mich – ganz besonderem Experiment.")

Er unterstreicht aber erneut, welche Gratwanderung diese "Selbstexperimente" sind. Gut umgesetzt können sie ein Spotlight auf einen gesellschaftlichen Missstand richten, Betroffenen eine Stimme geben sowie Missstände anprangern und Verantwortliche damit konfrontieren.

Einmal im Discounter auf den Cent genau rechnen

Sie stehen aber auch im Verdacht, in erster Linie den knalligen Effekt zu nutzen, um damit Aufmerksamkeit für gesellschaftskritische Allgemeinheiten zu erzeugen.

Nach dem Zusammentreffen mit Menschen, die unter sehr viel widrigeren Umständen leben als man selbst, schon innerhalb weniger Stunden beurteilen zu wollen, "wie sich das anfühlt" (Pilawa), ist in erster Linie – anmaßend. Gerade und vor allem für Prominente, die danach wieder nahtlos in ihr altes Leben zurückrutschen, in dem sie zur Arbeit chauffiert, verköstigt und angezogen werden, damit sie vor der Kamera gut aussehen – ohne sich mit den langfristigen Folgen des kurz erlebten Drucks auseinander setzen zu brauchen.

Diese Kritik muss sich auch Pilawa gefallen lassen, der angibt, eine Reise unternommen zu haben, "die meine Sicht auf Armut in Deutschland verändert hat". Denn so authentisch sich der Moderator dabei auch gibt: Einmal Lebensmittel bei der Tafel abzuholen, einmal im Discounter die Ausgaben bis auf den Cent genau abzuzählen, in der Eckkneipe hinterm Tresen auszuhelfen, bisschen Bus zu fahren, und ein, zwei Nächte in einer kargen Erdgeschosswohnung einer Hochhaussiedlung zu nächtigen – das reicht einfach nicht aus, um beurteilen zu können, wie das wirklich ist, jeden Monat wieder aufs Neue aus Scheiße Bonbons zu machen.

(Zumal Pilawa sein schmales Wochenbudget nicht mal nachvollziehbar ausreizen muss, sondern bloß mal kurz davon einkaufen geht.)

Authentisch im Umgang mit Unbekannten

Aber, und das ist sein großer Vorteil: Pilawa weiß selbst um die Schwächen dieses Konstrukts. Er räumt zwischendurch ein, wie schwer es ist, die seiner Gastfamilie angebotene Hilfe nicht wie Bevormundung wirken zu lassen; und weiß als langjähriger Botschafter der Tafel: "Prominente Unterstützung ist wichtig, und soll die Aufmerksamkeit auf die lenken, um die es wirklich geht." Aber halt auch: "Da kommt man einmal vorbei, macht ein paar Fotos und ist wieder weg." Ob das wirklich besser ist, drei Tage da zu bleiben, aber dafür mit Kamera, sei mal dahingestellt.

Gleichzeitig muss man der Produktion von Maz&More und Spiegel TV aber zu Gute halten, dass sie – auch dank ihres Hauptprotagonisten – irgendwie doch den richtigen Ton trifft.

Als Quizmoderator, der schon viele unterschiedliche Menschen durch seine Shows hat ziehen sehen, ist Pilawa authentisch im Umgang mit ihm bislang Unbekannten. Er kann auf Leute zugehen, sie anquatschen und ihnen das Gefühl geben, dass man sich längst schon kenne. Zwischendurch stellt er die richtigen Fragen, hört zu, lässt seine Gesprächspartner ihre Situation und Probleme selbst erklären; manchmal mischt er sich ein, ohne dabei bevormundend zu wirken. Das ist durchaus angenehm – und glaubwürdig. Auch weil er im Shisha-Bar-Gespräch mit Kalle, der schon im Jugendknast war, aber jetzt als Betreuer in der "Arche" aushilft, ein bisschen was aus der eigenen Vergangenheit preisgibt.

Ein plausibles Anliegen

Das Sat.1-Experiment mag die sich selbst zugewiesene Fallhöhe maximal ausreizen – aber ihr Anliegen, sich gegen die Stigmatisierung von Armut zu wenden und mehr Unterstützung für jene zu schaffen, die davon betroffen sind, nimmt man ihr ab.

Und zwar vor allem, weil es nicht Pialwas erster Anlauf ist, bei seinem derzeitigen Haussender auch jenseits der Shiny-Floor-Welt gut gelaunter Quizunterhaltung aufzutreten: Im September des vergangenen Jahres war der Moderator schon einmal in ähnlicher Mission unterwegs, um danach das "Sat.1 Spezial: Armut in Deutschland" dazu zu präsentieren. "Jörg Pilawa: Plötzlich arm" ist nun der – legitime – Versuch, durch Zuspitzung womöglich noch ein größeres Publikum dafür zu gewinnen.

Leider erleichtert das die von der Produktion gewählte Form nicht unbedingt: Denn auf das durchaus sehenswerte sechzigminütige Selbstexperiment, in dem Pilawa sich bereits mit dem "Arche"-Gründer, einem Kinderarzt und einem Taekwondo-Trainer über Wege aus der Armutssystematik unterhält, folgt anschließend noch eine dreißigminütige Talkrunde im Studio mit weiteren Gästen, in die viel mehr Themen gequetscht werden als Zeit ist.

Hastig geschnittener Nachklang

Am Ende dämpft dieser arg hastig zusammengeschnittene Nachklang den vorher erzielten Effekt eher; noch dazu, weil einzelne Passagen eines Gesprächs dazwischen geschnitten werden, das Pilawa zuvor mit Arbeitsminister Hubertus Heil geführt hat (und das in der Langfassung sicher interessant gewesen wäre).

Einen ganzen Themenabend wollte Sat.1 sich zur Problematik offensichtlich nicht leisten – obwohl es sich durchaus angeboten hätte: mit längerem Selbstexperiment und wenigstens einer Stunde Platz für einen ordentlichen Anschluss-Talk.

Aber, klar: am späteren Montagabend muss Sat.1 gerade zur "Big Brother"-Verwertung bereitstehen.

Dass ein sonst vorrangig auf Entertainment fokussiertes Fernsehen solche Problematiken überhaupt zielgruppenadäquat aufbereitet in die Primteime hebt, ist aber natürlich per se begrüßenswert – vor allem, wenn das nicht einmalig geschieht, sondern wiederkehrendes Ritual würde.

Warum machen wir das nicht öfter?

Erst recht, wenn auch die Porträtierten nachher was davon haben: "Zwei Tage Action mit 'nem Promi" hätten ihm total geholfen, neue Motivation zu tanken und die Wohnung auf Vordermann zu bringen, bilanziert der Vater der Großfamilie, bei der Pilawa während seines Gastaufenthalts zum Aufräumkommando wurde. Und selbst wenn die ausgestrahlte Sendung nachher nicht viel mehr als das bewirkt haben sollte: Dafür hat es sich eigentlich schon gelohnt.

Oder wie einer der Söhne meinte, der aus der Schule mit den unangetasteten Pilawa-Pausenbroten zurückkehrte: "Warum machen wir das nicht ab jetzt noch länger – das wär doch auch cool!" Ja, liebe Promis, warum eigentlich nicht?

Und damit: zurück nach Köln.

Sat.1 zeigt "Jörg Pilawa: Plötzlich arm" am Montag ab 20.15 Uhr.