Manchmal wache ich morgens auf und habe richtig Hunger. Ohrenhunger. Ich giere dann förmlich nach einem Song von Max Giesinger. Noch vor dem Zähneputzen. Ja, gib mir mehr von diesen nachdenklichen Songs, die mein komplett durchschnittliches Leben so wunderbar beschreiben, die mir deutlich machen, dass ich nicht allein bin mit meiner Sehnsucht nach mehr, dass da draußen ganz viele fühlen wie ich. Stoß die Julia Engelmann in mir an, schlag mein persönliches Poesiealbum auf.

Kaum habe ich den Giesinger durch, kommt dieser Schmacht nach einem Lied von Revolverheld. Ja, gib mir Nachdenkliches in Rockpop. Zum Anziehen, zum Mitrocken, wenn ich die Socken überstreife und überlege, ob ich heute mal die schwarzen mit den roten Streifen am Schaft nehme. Oder doch die gelben? Oder gar gemischt? Aber dann weiß ich, dass mein Tag keine Revolution verträgt. Mein Tag ist sowas von durchschnittlich. Ich bin Revolverheld. Ich bin Durchschnitt. Woher ich das weiß? Mein Radio sagt es mir.

Es knallt mir erst den Beitrag eines Singer/Songwriters um die Ohren, der schwer nach Problemen mit den Nasennebenhöhlen klingt, wo sich offensichtlich zu viel Schmalz angesammelt hat. Dann folgt ein Song von Justin Bieber, noch bevor mein Toast hochgepoppt ist. Yeah, mach mich Pop. Sprüh Farbe in meine Ohren oder eben das, was Durchschnittsmenschen wie ich für Farbe halten. Ist doch wurscht, wenn ich von außen mausgrau aussehe. Hauptsache, in mir ist es bunt. Und wenn es zu bunt wird, dann knallt ein Song von Wincent Weiss in mein Leben. Das ist Literatur für mein kleines Hirn, da komme ich ins Nachdenken, ins Grübeln, ins Träumen. Ich denke, dass mein Leben so groß sein könnte wie das all dieser wunderbaren Sangeskünstler. Ich muss nur die Kraft ihrer Phantasie in mich hineinlassen, muss die professionelle Wucht ihrer Fließbandlyrik abfärben lassen. Dann ist da Musik und ein Feuerwerk, das minütlich meinen Kopf in den Nacken wirft und mich „ah“ ausrufen lässt.

Ich spüre an Tagen wie diesen jeden Teil meines Körpers, und jeder Teil sagt mir, dass ich eigentlich atemlos durch die Nacht hätte streifen sollen anstatt zu schlafen. Das wäre es gewesen. Aufbleiben, bis der Morgen die Wolken lila färbt. Oben auf dem Dach sitzen, knietief im Klischee. Scheiß auf das Wetter. Ich will mein Leben als singender Poetry Slammer im Radio leben oder wenigstens so wie es mein Radio mir vorgibt.

Ich mache das nicht bewusst, aber mein Radio lebt halt sein Leben in mir. Es kriecht in mich und verabreicht mir den Song zur atemlosen Phantasie. Helene Fischer. Lange nicht gehört. Also mindestens eine Stunde nicht. Sofort weiß ich: Das ist Heimat, und ich weiß, dass ich jetzt daheim bin. Mein Radio macht es mir kuschelig. Mein Radio geht zärtlich mit mir um. Wenn alle auf mich schimpfen, schmust mein Radio mit mir. Es streichelt mich, es gibt mir das Gefühl, richtig zu sein in meiner Durchschnittlichkeit. Es gibt mir Johannes Oerding und die Toten Hosen und Justin Timberlake. Immer wieder. Die Botschaft ist klar. Ich muss mich nicht ändern, weil auch mein Radio sich nicht ändert. Es gibt mir, was ich kenne, es überfordert mich nicht mit Neuem.

Doch, manchmal gibt es auch Exotisches. Dann spielt mein Radio einen Song von Adele. Doch, das halte ich tatsächlich für exotisch, wenn ich viel Durchschnittsradio höre. Der Mensch wird halt das, was er hört. Dann fliege ich durch die Welt und erlaube mir kurz ganz großes melancholisches Gefühl, trauere inbrünstig verlorenen Lieben hinterher, bevor ich wieder zurückstürze in meine Durchschnittlichkeit. Alles nur Illusion? Nein, meine Durchschnittlichkeit ist real, aber das Radio lässt mich das alles ertragen. Es füttert natürlich auch meine Fremdenangst, weil es sich nie traut, mich wirklich zu überraschen. Als Überraschung gilt im deutschen Radio ja schon, wenn es mir einen neuen Song von Max Giesinger präsentiert.

Nicht überfordern den Hörer, sondern ihm nur vorsetzen, was er mag. Sonst haut er ab. Ich würde nicht nur abhauen, wenn mir mein Radio nicht die ewig gleichen Künstler um die Ohren schmieren würde, ich käme möglicherweise sogar suizidal drauf, wenn meine Durchschnittlichkeit nicht garniert würde mit professionell aufbereiteter akustischer Durchschnittlichkeit. Ich brauche das. Das deutsche Durchschnittsradio war schon Filterblase, bevor der Begriff erfunden wurde.

Und ja, da kommt er. Ein neuer Song von Max Giesinger. Oder doch der alte? Ist für mich schwer zu unterscheiden. Aber bevor ich dazu komme, über die begrenzte Welt des deutschen Konsumradios nachzudenken und mir die Frage stelle, ob es eventuell noch andere Künstler gibt, läuft wieder ein Lied von Revolverheld. Echt nett diese Typen. Und so nah an meiner Befindlichkeit. Ja, weck noch einmal die Julia Engelmann in mir. Und dann gib mir einen Song von Justin Bieber. Und einen von Wincent Weiss. Und einen von Justin Timberlake. Und einen von Helene Fischer. Und einen von den Toten Hosen. Einen von Johannes Oerding. Und einen von Adele. Und einen von Max Giesinger. Und einen von Revolverheld...

Das deutsche Durchschnittsradio ist so vielfältig. Ein Traum. Für jede Stimmung den richtigen Song, den richtigen Interpreten. Schimpf ruhig drauf. Nenn es einfältig. Sag, es sei immer derselbe Schmier. Du hast keine Ahnung. It's my life in heavy rotation. Man muss es nur spüren wollen, sich selbst spüren wollen. Julia Engelmann, steh mir bei.