Julian Reichelt will das Fernsehen revolutionieren. Der „Bild“-Chefredakteur möchte das, was er bislang mit seinem Blatt macht, auf Glotzenformat ausweiten. "Wir wollen das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie es die Leute erleben, und nicht so steril und weichgespült wie teilweise bei den Öffentlich-Rechtlichen", sagte er dem Spiegel und offenbarte damit eine Realitätswahrnehmung, die sehr hart an der Realitätsverweigerung entlangschrammt, was einem wie Reichelt jedoch nicht zum Nachteil gereicht, sondern im Hause Springer eher als Qualifizierungsmerkmal durchgeht. 

Das kann man zumindest annehmen, wenn man sich anschaut, wie Mathias Döpfner, seines Zeichens Vorstandsvorsitzender des Hauses, mit dem Thema des Anschlags in Halle umgeht. Über eine ganze Titelseite der „Welt“ schwadroniert er am Freitag wirr durch tausend Themen, von Ausländerkriminalität über die angebliche Political Correctness bis hin zur ewigen Kritik an den Öffentlich-Rechtlichen. Nur über Rechtsextremismus findet sich kein klares Wort. 

Als jemand, der früher mal für die „Welt am Sonntag“ und den „Rolling Stone“ geschrieben hat, weil es da auch Redakteure gibt, die sehr nett und sehr vernünftig ticken, schäme ich mich nun im Nachhinein, jemals für diesen Verlag gearbeitet zu haben, in dem derart willkürlich mit der Wahrheit umgegangen wird, in der man sich die Realität so zurecht biegt, dass sie in die eigene Weltsicht passt und dann allen Andersmeinenden genau dieses Verhalten unterstellt. Es ist eine Schande für den deutschen Journalismus, und dass einer wie Döpfner Vorsitzender des Bundesverbands Deutscher Zeitungsverleger sein darf, ist ein Skandal.

Wollte man es vornehm ausdrücken, müsste man anmerken, dass man bei Springer eine sehr eigene Sicht auf die Realität pflegt. Realität ist dort nicht das, was ist, sondern das, was in dem Kram passt. Realität ist dort das, was Schlagzeile macht und Rendite verspricht, was Reichweite bringt und Klicks generiert. Insofern ist es mit Vorsicht zu genießen, wenn Reichelt behauptet, er wolle das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie es die Leute erleben.

Abgesehen von der Tatsache, dass man die Floskel „wie es die Leute erleben“ im Falle Springer problemlos übersetzen könnte mit „wie es Reichelt und Döpfner erleben“, stellt sich die grundsätzliche Frage, ob das Fernsehen, so wie wir es kennen, überhaupt etwas zu tun hat, mit Realität.

Hat irgendwer schon Realität im Fernsehen erlebt? In den Nachrichten, in den Dokumentationen, in den Talkshows? Ich fürchte, all diese Fragen müssen mit einem klaren Nein beantwortet werden, denn mediale Aufarbeitung eines Geschehens wird das Geschehen nie korrekt abbilden. Das, was in Zeitungen, im Netz und im Fernsehen zu sehen ist, entspricht nie der Realität. Das, was als Realitätsabbildung verkauft wird, bleibt selbst im besten Fall immer nur eine Annäherung an das Echte.

Das echte Leben findet nicht im Fernsehen statt. Nie. Alles, was sich dort abspielt, wird durch ein Brennglas betrachtet. Gezeigt wird in der Regel nicht die Norm, sondern die Abweichung von eben dieser. Das Normale ist nicht fernsehtauglich. Vielmehr ist Abweichung die Norm im Fernsehen.

Im „Zeit“-Podcast „Die Schaulustigen“ war kürzlich Gesprächsthema, dass der politisch irrlichternde Ex-Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen damit prahle, nie Fernsehen zu schauen. Ihm wurde öffentlich geraten, dies doch besser zu tun, weil Fernsehen eben Lebens-Info sei. Really?

Man kann diese Empfehlung natürlich verstehen, weil sie von Menschen kommt, die sich beruflich mit Fernsehen auseinandersetzen und deshalb wichtig finden müssen, worüber sie berichten. Aber diese professionelle Verformung der Sichtweise muss deshalb noch lange keine Wahrheit generieren.

Die Menschen finden im Fernsehen keine Realität, sie finden allenfalls Orientierungspunkte, und manche verirren sich auch zwischen diesen Punkten. „Ich frage mich auch, ob ich nicht zu lange zu versenkt war, zu beteiligt an fiktiven Leben, zu engagiert darin, mir selbst episodenweise die Teilnahme am Leben zu ersparen, das Dabeisein wegzuballern“ schrieb kürzlich Till Raether im „SZ Magazin“ und beleuchtete seine Abkehr aus der Serienwelt, in der Produkte ja gerne auch danach kategorisiert werden, wie viel vermeintliche Wahrheit sie enthalten, wie real sie sind oder scheinen. 

Das kann dazu führen, dass Menschen ihrem eigenen Empfinden, ihrem eigenen Handeln misstrauen, weil sie gerade keinen Film, keine Serie als Referenz parat haben. Wenn sogar Greta Thunbergs Reden abgeklopft werden auf mögliche Vorlagen aus der Filmwelt, wenn man sich weigert, etwas als Realität anzuerkennen, weil man glaubt, dass es für alles eine fiktionale Vorlage geben muss, dass nichts aus sich heraus geschieht, dann verdeutlicht das doch, wie sehr sich der Mensch abgekoppelt hat von seinem Sein. Eine Welt, die sich nicht mit irgendeiner Serie, irgendeinem Film vergleichen lässt, verliert da beinahe ihre Existenzberechtigung. Es kann nichts geben, was nicht schon gezeigt wurde, lautet das Motto.

Wer oder was aber bildet eigentlich wirklich Realität ab? Krimis? Nachrichten? Soaps? Reality?

Halt, ruft da wer. Dokumentationen, die seien doch im besten Fall echt und wahr. Nein, nein, nein. Sie sind nie wahr, sie wirken nur wahr

Man nehme nur mal Tier-Dokus. Wie oft sieht man dort ödes Grasen, also das, was viele Tiere die meiste Zeit des Tages tun? Die Antwort lautet: höchstselten. Ödes Grasen sieht man immer nur kurze Momente lang. Meist geht es ums Fressen und Gefressenwerden. Es geht um den Kampf der heilen Welt gegen das vermeintlich Böse. Es geht um Drama und die Erlösung, wenn die putzigen Eisbärenbabys doch nicht verhungern, was sie in der echten Welt aber tun. Das sieht man nur nie.

Fernsehen ist immer aufgeblasen, immer das Besondere. Das Normale, das Durchschnittliche muss man lange suchen. Das Bild prägt der tägliche Wettbewerb. Rote Rosen gegen Tagesschau. Tagesschau gegen Tatort. Maybrit Illner gegen Hart aber fair. Pilcher gegen Soko.

Was präsentiert wird, hat mit echtem Leben wenig zu tun, weil natürlich alles spannender ist als die Realität, und ihre eigene Realität in voller Ausprägung wollen meist nur jene sehen, die ihr Leben künstlich aufgehübscht haben und eine Existenz ohne Selfiestick nicht ertragen. Für alle anderen präsentiert Fernsehen vor allem Lebensfremdheitsentwürfe.

Als Problem erweist sich dabei, dass sich diese vermeintliche Realitätsdarstellung sehr wahrscheinlich auf die individuelle Realitätswahrnehmung auswirkt. Wer all die täglichen/stündlichen Sokos und Tatorte und Brennpunkte sieht mit all ihren Opfern, dem schwindet über kurz oder lang das individuelle Sicherheitsgefühl, auch wenn die offiziellen Kriminalitätsstatistiken etwas anderes suggerieren.

Nicht ohne Grund setzt ja Julian Reichelt bei seinen Fernsehplänen nicht auf das echte Leben, sondern sagt: "Wir wollen das Land, die Welt, die Politik und den Alltag der Menschen so zeigen, wie es die Leute erleben.“ Das Problem dabei ist allerdings, dass man bei Springer eine sehr genaue Vorstellung zu haben scheint, wie dieses Erleben auszusehen hat. Und solange Typen wie Reichelt und Döpfner am Ruder sind, gibt es allen Grund, das kommende Bild-Fernsehen zu fürchten.