Herr Naß, die Tour de France hat ihre TV-Quoten in Deutschland auch in diesem Jahr wieder steigern können. Hat sich die Entwicklung schon im Vorfeld abgezeichnet?
Tatsächlich bin ich nicht komplett überrascht von der Entwicklung. Beim HR, meiner Heimat-Anstalt, haben wir in diesem Jahr am 1. Mai wieder das Radrennen Eschborn-Frankfurt, früher "Rund um den Henninger Turm", übertragen und damit die höchsten Quoten seit vielen Jahren erzielt. Daran hat man schon ablesen können, dass das Interesse am Radsport hoch ist. Das war für mich ein echter Gradmesser. Gleichzeitig ist die Entwicklung der Tour de France seit Jahren stark: Wenn man sich die Quoten der letzten zehn Jahre ansieht, dann lässt sich ein permanenter Anstieg um fast 50 Prozent erkennen. Wir waren damals noch knapp unter zehn Prozent Marktanteil und liegen in diesem Jahr im Moment bei fast 13 Prozent. Und auch bei unserem Podcast "Tourfunk" steigen die Zugriffszahlen im Vergleich zu den Vorjahren. Das ist in meinen Augen dem Zeitgeist geschuldet – ganz unabhängig davon, dass diesmal ein deutscher Fahrer vorne mitfährt.
Die Erfolge von Florian Lipowitz dürften in diesem Jahr dennoch geholfen haben, oder?
Ganz klar, diese Quote, die wir am Samstag bei der Königsetappe in den Pyrenäen hatten, mit 25 Prozent in der letzten Rennstunde – das haben wir seit mehr als 20 Jahren nicht gehabt. Natürlich ist dieser Topwert ganz eindeutig auf Florian Lipowitz zurückzuführen. Dennoch glaube ich, dass die Quoten auch ohne seine starke Leistung weiter angestiegen wären, schließlich war sein Erfolg ganz am Anfang noch gar nicht abzusehen.
Sie sprachen gerade vom Zeitgeist. Dazu passt, dass die Tour de France verstärkt ein jüngeres Publikum erreicht. Wächst da gerade also auch vor dem Fernseher eine neue Radsport-Generation heran?
Das glaube ich durchaus. Ich führe das auf die Corona-Zeit zurück, in der sehr viele Menschen auf das Rad gestiegen sind. Viele junge Menschen begreifen Radsport im Prinzip ein bisschen als das neue Jogging. Ich erinnere mich noch sehr genau an eine Beobachtung, die ich vor zwei Jahren gemacht habe, als ich im Elsass die Strecke einer Etappe abgefahren bin. Da sah ich viele junge deutsche Fans, die sich sehr deutlich unterschieden haben von den Fans der Jan-Ullrich-Zeit. Damals trugen die Anhänger T-Mobile- oder Gerolsteiner-Trikots. Das sieht man heute in dieser Art und Weise nicht mehr; die begeistern sich für den Radsport im Allgemeinen und betreiben ihn auch selbst – oft fahren sie sogar mit dem Rad zu den Rennen. Gleichzeitig steigt die Zahl der Teilnehmerinnen und Teilnehmern an Jedermann- und Jederfrau-Rennen an. Deshalb bin ich davon überzeugt, dass Sie keine deutschen Etappensieger und auch keinen deutschen Fahrer im Gelben Trikot brauchen. Das steigende Interesse an der Tour hat viel tiefere Gründe.
Damit unterscheidet sich die Tour de France auch von anderen Sportarten, die sehr stark vom Erfolg deutscher Teilnehmer oder Mannschaften abhängen. Der Handball, den sie ja auch seit Jahren kommentieren, ist traditionell dann im Fernsehen erfolgreich, wenn die deutsche Mannschaft erfolgreich ist. Worauf führen Sie diesen Unterschied zurück?
Ich glaube, es liegt schon an der Tour de France selbst. Die Übertragung, die das französische Fernsehen macht, ist wirklich monumental. Es gibt kein Rennen, das besser abgebildet wird, das so viel verbindet – neben dem Sport auch die Kultur, die Menschen, den Enthusiasmus. Das Interesse am Giro d'Italia ist im Vergleich dazu bei Weitem nicht so groß. Insofern lässt sich also durchaus eine Parallele zum Handball ziehen, der vor allem mit den großen Turnieren in Verbindung gebracht wird. Der Januar ist für den Handball reserviert, der Juli gehört der Tour.
"Das französische Fernsehen hat sehr wohl erkannt, wie wichtig dieser Blick auf Frankreich mit all seinen Orten und Regionen ist."
Sie berichten seit 1997 von der Tour de France, viele Jahre davon als Kommentator. Wie haben sich die Übertragungen der Tour de France in den vergangenen Jahren entwickelt?
Als ich begonnen habe, wurde noch nicht jede Etappe in ganzer Länge live übertragen, das waren anfangs noch die absoluten Ausnahmen. Das hat sich längst verändert und der Aufwand ist wahrlich gewaltig – alleine sieben Motorräder, zwei Helikopter in der Luft, dazu die bessere Bildauflösung durch die HD-Technik. Gleichzeitig hat das französische Fernsehen sehr wohl erkannt, wie wichtig dieser Blick auf Frankreich mit all seinen Orten und Regionen ist. Das gleicht ja im Prinzip fast schon einer Dauerwerbeveranstaltung der Tourismusbehörde, bei der sich Frankreich jedes Jahr von seiner besten Seite zeigt.
Sie gehen mitunter äußerst detailliert darauf ein.
Ich bereite mich sehr intensiv auf jede Etappe vor – und es ist fast schon vorhersehbar, was die französischen Kolleginnen und Kollegen zeigen werden. Da wäre es ja geradezu fahrlässig, nichts über die Abteien oder Schlösser zu wissen, die im Laufe der Übertragung eingeblendet werden. Ich suche aber auch die kleinen menschlichen Geschichten, die sich ja überall verstecken können.
Wie halten Sie die Balance zwischen Sport und Kultur?
Geschätzte 80 Prozent des Rennens bleiben wir beim Sport, aber wir haben uns bewusst dazu entschieden, keine reine Sportübertragen zu machen. Ich glaube, manchmal ist es tatsächlich weniger wichtig, ob der Fahrer in der Spitzengruppe schon mal Dritter oder Fünfter bei Mailand-Sanremo war. Letztlich versuchen wir mit unserer Übertragung ein möglichst breites Publikum anzusprechen, etwa indem wir Michael Antwerpes an besondere Orte der Tour schicken oder den Austausch mit dem Publikum suchen, das uns auch mal kritisieren darf. Es ist doch klar, dass beispielsweise nicht jeder es gut findet, dass wir auf dem Sender Jan Ullrich interviewen.
Jan Ullrich hat mit seinem Tour-Sieg einst den größten Radsport-Hype in Deutschland ausgelöst. Danach folgte der tiefe Fall, ausgelöst durch immer neue Dopingskandale. 18 Jahre ist es inzwischen her, dass ARD und ZDF entschieden haben, aus den Übertragungen auszusteigen. Wie haben Sie diese Zeit damals wahrgenommen?
Das hat mich auch persönlich betroffen, denn es ging ja um meine Arbeit, der ich nachgehe. Auf der anderen Seite hatte auch ich mich zu dem Zeitpunkt in gewisser Weise vom Radsport entfernt, weil ich natürlich, wie so viele andere auch, entsetzt war über das, was vor allem in dieser Breite an Betrug vor sich ging. Der damalige Ausstieg war in letzter Konsequenz sicher richtig, weil es auf Dauer nicht hilft, wenn man immerzu nur eine Drohkulisse aufbaut. Im Übrigen waren wir ja nicht die einzigen, die sich seinerzeit vom Radsport entfernt haben. Auch viele, viele Sponsoren haben ihm damals den Rücken zugewandt. Glücklicherweise hat sich der Radsport seither so stark verändert, dass er sich neues Vertrauen der Fans erarbeitet hat. Was natürlich nicht heißt, dass das jetzt ein sauberer Sport ist, auch wenn es keine gegenteiligen Beweise gibt.
Die Tour de France oder der Handball zeigen, dass es in Deutschland durchaus möglich ist, dem übermächtigen Fußball etwas entgegenzusetzen. Würden Sie sich wünschen, dass sich der Fokus der deutschen Fans noch weiter verschiebt?
Dass der Fußball in Deutschland eine besondere Stellung hat, ist natürlich vollkommen in Ordnung. Aber klar wäre es wünschenswert, wenn es uns gelingen könnte, das Spektrum noch zu erweitern, auch wenn das in meinen Augen zunehmend gelingt. Denken Sie nicht nur an Handball oder die Tour de France, sondern auch an die stundenlangen Wintersport-Übertragungen an den Wochenenden. Ich hätte allerdings noch einen zweiten Wunsch hinterher.
"Ich würde mir wünschen, dass wir unseren Fokus noch viel stärker auf den Frauensport richten."
Und zwar?
Ich würde mir wünschen, dass wir unseren Fokus nach dem norwegischen Vorbild noch viel stärker auf den Frauensport richten. Dort sind die Hallen voll, wenn die Handballerinnen spielen, während bei den Männern oft nur 600 Leute zuschauen – auch deshalb, weil die Frauen in technischer Hinsicht den besseren Handball zeigen. Bei der Tour de France gehen wir diesen Weg inzwischen sehr konsequent, indem wir auch die Tour de France Femmes großflächig übertragen. Deren Reichweiten werden sicher noch ein ganzes Stück hinter denen der Männer liegen, aber ich halte diesen Schritt für wichtig. Und wer weiß, vielleicht gelingt es uns irgendwann ja sogar, gar nicht mehr diese Trennung aufzumachen, sondern zu sagen, dass uns der Sport an sich interessiert – ganz egal, ob da nun Männer oder Frauen auf dem Rad sitzen oder auf dem Feld stehen.
Abschließend noch eine persönliche Frage zum Handball. Ab 2027 werden die Weltmeisterschaften nicht mehr bei ARD und ZDF zu sehen sein, sondern bei ProSiebenSat.1. Wie sehr schmerzt Sie das?
Das schmerzt mich sehr, denn wir haben diesen harten Sport, den ich ja auch selbst betrieben habe, über Jahre begleitet, auch in den Regionalsendungen – und zwar nicht nur, wenn es um Goldmedaillen ging. Letztlich ist es eine Entscheidung des Welthandballverbands und der Agentur, die sicherlich dem Finanziellen geschuldet ist. Das muss man akzeptieren, auch wenn ich es persönlich sehr schade finde.
Herr Naß, vielen Dank für das Gespräch.