Herr Lünenborg, im Frühjahr dürften Sie vermutlich nicht damit gerechnet haben, wenige Monate später Intendant des NDR zu werden. Wie haben Sie ganz persönlich dieses Jahr empfunden?
Es war ein sehr herausforderndes Jahr. Man steht morgens ja normalerweise nicht mit dem Gedanken auf, unbedingt Intendant werden zu müssen. Das ist zunächst mal eine Aufgabe, die auf einen zukommt. Gleichzeitig habe ich ein großes Verantwortungsgefühl gegenüber dem Norddeutschen Rundfunk und vor allem auch für die Idee des öffentlich-rechtlichen Rundfunks. Dennoch will so ein Schritt gut überlegt sein. Ich habe deshalb viel darüber nachgedacht, was ich eigentlich einbringen kann – und bin schließlich zu dem Schluss gekommen, mich zur Wahl zu stellen.
Sie sind seit dem Volontariat beim NDR. Was lernt man in den ersten Wochen als Intendant über das Haus, was Sie vorher noch nicht wussten?
Ich habe es immer als Vorteil begriffen, das Haus aus so vielen unterschiedlichen Perspektiven zu kennen. Dadurch bin ich in der Lage, den NDR auch zu verändern. Ich musste allerdings sehr früh lernen, dass man mit der Amtsübernahme für alles verantwortlich ist. Das ist, offen gesagt, nicht immer ganz leicht, weil ich jetzt auch Dinge zu verantworten habe, die ich nicht selbst entschieden habe. Aber das gehört eben zum Amt dazu.
Sie spielen auf die Debatte um das konservative Magazin "Klar" und die Moderatorin Julia Ruhs an, die schon kurz nach Ihrem Amtsantritt über den NDR hereinbrach. Was ist Ihnen dadurch bewusst geworden?
Mir ist bewusst geworden, dass alle den Anspruch haben, eine Meinung zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk zu haben. Leider werden bestimmte Diskussionen sehr emotional und nicht sachlich geführt. Aber das betrifft letztlich nicht nur den NDR, sondern auch andere gesellschaftliche Institutionen. Dieser gesellschaftliche Aspekt, der in diesem Fall mitschwingt, beschäftigt mich intensiv.
Haben wir es als Gesellschaft verlernt, uns gegenseitig zuzuhören?
Ich bin ein großer Freund von sachlichem Streiten – und das nicht nur mit der kritischen Öffentlichkeit, sondern vor allem auch innen. Die innere Rundfunkfreiheit beinhaltet ja gerade, dass man in einem geschützten Raum über Inhalte streitet, über Themen debattiert. Dieser Raum muss geschaffen werden. Dennoch habe ich den Eindruck, dass wir das wieder ein bisschen besser lernen müssen. Deshalb habe ich beauftragt, dass wir uns im Haus mit unserer Debattenkultur im Inneren beschäftigen. Bereits in meiner Antrittsrede ging es um zwei Themen, die in der "Klar"-Debatte wieder hochgekommen sind: Debattenkultur und Perspektivenvielfalt. Beides wird uns auch in den nächsten Jahren intensiv beschäftigen.
"Für mich funktioniert Journalismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht nach einem Links-Rechts-Schema."
Hätte die Debatte um "Klar" verhindert werden können?
Ich weiß nicht, ob man derartige Debatten komplett verhindern kann. Aber wir müssen jetzt die Schlüsse ziehen. Für mich funktioniert Journalismus im öffentlich-rechtlichen Rundfunk nicht nach einem Links-Rechts-Schema. Mit solchen Kategorien kann ich nicht viel anfangen. Journalismus ist ein Handwerk, das klaren Standards folgt. Darauf will ich die Debatte zurückführen.
Das Sendegebiet des NDR umfasst vier Bundesländer. Wie wollen Sie sicherstellen, alle Perspektiven im Programm abzubilden?
Die Perspektivenvielfalt ist ein strategisches Ziel des Norddeutschen Rundfunks, das ich direkt zu den anderen Zielen ergänzt habe, weil ich fest davon überzeugt bin, dass das zu einer höheren Akzeptanz in der Bevölkerung beiträgt. Perspektivenvielfalt ergibt sich zum Beispiel, indem man mehr in den Dialog kommt mit den Menschen, die uns tragen. Es ist aber auch die Frage, wie vielfältig unsere Redaktionen besetzt sind. Jeder und jede im Haus muss sich klar machen, dass es unser Job ist, die Vielfalt der Perspektiven in Norddeutschland zu berücksichtigen. Die Größe unseres Sendegebiets ist ohne Zweifel eine Herausforderung, sie ist aber auch unser großes Glück, weil wir alleine dadurch schon viele unterschiedliche Ansichten aufgreifen. Schließlich haben wir nicht nur unsere Landesfunkhäuser, sondern auch die Studios und Korrespondentenbüros. Unsere Präsenz in der Fläche werden wir in den nächsten Jahren eher noch ausbauen.
Gar nicht so einfach bei so vielen Fragezeichen, Stichwort Reformstaatsvertrag und Rundfunkbeitrag.
Diese Unsicherheiten, die sich aufgrund einiger politischer Prozesse ergeben, sind belastend. Noch besteht allerdings die Chance, dass der Reformstaatsvertrag umgesetzt wird. Für uns ist die Tatsache, dass das das Bundesverfassungsgericht noch immer nicht geurteilt hat, eine viel schwierigere Situation. Wir hoffen, dass sie sich in den nächsten Monaten auflösen wird.
Was, wenn die Erhöhung des Rundfunkbeitrags nicht kommt?
Im Moment müssen wir davon ausgehen, dass es klappt, weil die KEF die Erhöhung empfohlen hat und dieser Empfehlung eigentlich Folge geleistet werden muss. Wenn nicht, dann müssen wir selbstverständlich neu nachdenken. Dann wird es allerdings nicht ohne Einschränkungen weitergehen.
Auch im Regionalen?
Einschränkungen in der Regionalberichterstattung kann ich mir nicht vorstellen. Sie ist das Herzstück des Norddeutschen Rundfunks.
Generell setzt die ARD schon seit einiger Zeit verstärkt auf Zusammenarbeit der Anstalten. Geht da noch mehr?
Wir sind ja nicht nur zur Kooperation verpflichtet, sondern wollen das auch selbst, weil wir sehen, welche Vorteile das bringt. Im NDR haben wir beispielsweise mit dem Kompetenzcenter Gesundheit sehr gute Erfahrungen gemacht und mit dem WDR arbeiten wir z.B. beim Debattenformat "Die 100" erfolgreich zusammen. Es gibt aber auch im Verwaltungsbereich echte Fortschritte. Zum Beispiel machen wir in Rostock seit einiger Zeit auch die Reisekostenabrechnung für den Bayerischen Rundfunk mit. Aber natürlich geht da aus meiner Sicht noch mehr.
"Ohne Zuversicht funktioniert kein Transformationsprozess."
Gleichzeitig schreitet auch der Wandel der Mediennutzung voran.
Wir befinden uns in einer schwierigen Transformationsphase, weil wir im Linearen nach wie vor erfolgreich sind. Im Hörfunk und Fernsehen gelingt uns eine enorme Bindung; gerade erst haben wir mit unseren Regionalmagazinen am Vorabend wieder 1,3 Millionen Menschen erreicht. Ich frage mich: Wie schaffen wir diese Bindung auch im Digitalen? Eine umfassende Antwort darauf habe ich noch nicht gefunden, aber wir arbeiten dran.
Durch Umschichtung alleine ist es nicht getan?
Allen in der ARD ist klar, dass wir Reichweitenverluste im Linearen hinnehmen müssen, um die digitalen Ausspielwege zu stärken. Und wir alle haben bereits umgeschichtet, haben neue Formate mit anderer Bildsprache und neuen Erzählweisen entwickelt, durch die wir ein jüngeres Publikum ansprechen. Gleichzeitig haben wir uns in der Steuerung des Portfolios professionell aufgestellt. Damit sind wir auf verschiedenen Plattformen erfolgreich, beispielsweise auf TikTok oder YouTube. Reichweite allein ohne starke Bindung wird uns auf Dauer aber nicht helfen.
YouTube ist also Ihr Freund und Gegner zugleich?
Das ist der Widerspruch, mit dem wir im Moment leben. Auf der einen Seite benötigen wir YouTube als Schaufenster unserer Produkte. Die große Herausforderung besteht darin, die Nutzerinnen und Nutzer auf Dauer in die Mediathek zubringen. Mein Ziel ist daher: Reichweite plus Bindung.
Was macht Sie mit Blick auf die kommenden Jahre zuversichtlich, dass sich die Bindung erhöhen wird?
Ohne Zuversicht funktioniert kein Transformationsprozess. Und es gibt ja auch wirklich gute Gründe für Optimismus, denn wir machen gute Programme. Wir haben schon jetzt wertvolle Erkenntnisse aus unseren Dialogformate gezogen, die wir auch noch weiter entwickeln werden. Im vergangenen Jahr sind wir mit unseren Pop-Up-Studios gestartet, bei denen wir in den direkten Dialog mit den Norddeutschen kommen. Durch die stärkere Sichtbarkeit in den Regionen werden wir viel besser wissen, was sich die Menschen von uns erwarten. Ich bin aber auch deshalb optimistisch, weil die meisten Menschen nach meinem Eindruck wissen, dass es gut ist, einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk in Deutschland zu haben. Vielleicht haben wir in der Vergangenheit zu wenig darauf geachtet, um das Vertrauen zu werben. Aber daran arbeiten wir.
Bereitet es Ihnen Sorge, dass die Kräfte, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk am liebsten abschaffen würden, stärker werden?
Diese Entwicklung bereitet mir Sorgen. Eine Bundesrepublik Deutschland ohne öffentlich-rechtlichen Rundfunk mag ich mir nicht vorstellen und die meisten anderen Deutschen zum Glück auch nicht Gerade wenn man sich vor Augen führt, mit welcher Wucht Desinformation verbreitet wird, braucht es einen starken öffentlich-rechtlichen Rundfunk – und ganz allgemein einen unabhängigen Journalismus. Denn wir sind ja nicht alleine auf der Welt, sondern teilen die Verantwortung mit den Verlagen und privaten Sendern. Mein Eindruck ist, dass mittlerweile alle begriffen haben, dass das nur im Miteinander geht.
Stichwort Desinformation: Dass die Zukunft von Tagesschau24 auf dem Spiel steht, dürfte Ihnen kaum gefallen.
Die Diskussionen, wie wir den Reformstaatsvertrag umsetzen, laufen noch. Ich kann an dieser Stelle nur betonten, welche Bedeutung tagesschau24 für den Nachrichtenbetrieb der ARD hat. Der Sender ist unsere Garantie für Breaking-News-Fähigkeit. Wann immer etwas passiert, können wir dadurch auf tagesschau.de, in der Mediathek und natürlich auch im Ersten live auf Sendung gehen. Das ist unser absoluter Kernauftrag.
Vor ziemlich genau zehn Jahren haben sich der ehemalige WDR-Intendant Tom Buhrow und Ihr Vorgänger im Amt, Lutz Marmor, 90 Minuten lang den Fragen des Publikums in einer Live-Sendung gestellt. Wann sehen wir Sie in der Manege?
Im Fernsehen eher nicht. Aber Sie werden mich regelmäßig erleben im Austausch mit Menschen, die uns nutzen, vor allem aber mit jenen, die uns noch nicht nutzen. Das habe ich schon in der Vergangenheit getan und werde ich auch weiterhin tun. Wir werden von allen finanziert, insofern darf auch jeder seine Meinung zu uns haben und kritisch mit uns umgehen.
Herr Lünenborg, vielen Dank für das Gespräch.
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