Ulrich Meyer über Akte, politische Talkshows und DokuSoaps

Foto: Roland HornDWDL: Wodurch unterscheidet sich "Akte" von anderen Reportage-Magazinen im deutschen Fernsehen?

Ulrich Meyer: Durch seine Ideen. Die Wirklichkeit nicht einfach nur abfilmen, sondern Reibungsflächen erzeugen. Wir haben, um ein Beispiel zu nennen, zusammen mit einigen Firmen Praktikumsplätze angeboten. Wir haben die Aktion dokumentiert von den Bewerbungsgesprächen bis zu den ersten Arbeitstagen der Auserwählten. Das Thema Arbeitsplatzmangel ist also nicht nur abgefilmt, sondern so realitätsnah wie möglich visualisiert worden. Zudem gehen AKTE-Reporter mutiger an Themen und Verantwortliche heran als andere.

DWDL: Und wie unterscheidet sich "Akte 2005" von "Akte 1995"? Wie hat sich die Arbeit der Redaktion in den zehn Jahren verändert?

Ulrich Meyer: Es gibt Dinge, die können nur wir als Redaktion und kein einzelner Bürger machen. Wenn Zuschauer merken, dass sie z.B. von ihrer Versicherung an der Nase herumgeführt werden, aber alleine per Briefwechsel ihr Recht bei der Versicherung nicht durchsetzen können, dann wird häufig uns geschrieben. Das sind Geschichten, die bei uns jede Woche stapelweise eintreffen. Geändert hat sich sicherlich, dass wir mittlerweile mehr Unterstützung bieten können als zu Beginn. Professioneller geworden ist auch die Art der Konfrontation, wenn wir also die direkte Aussprache mit den Menschen suchen, die in unseren Augen Verantwortung für einen Missstand tragen. Vor zehn Jahren hat ein Geschäftsführer noch sorglos persönlich Auskunft gegeben. Die mediale Wirklichkeit im Jahr 2005 sieht so aus, dass auch Firmen mittlerweile wissen, wie sie auf solche Anfragen zu reagieren haben. Insofern ist unsere Arbeit schwieriger geworden, erfordert mehr Kniffe und Einfälle. Auch anders als vor zehn Jahren sind wir heute mit "Akte" nicht mehr allein. Selbst öffentlich-rechtliche Magazine versuchen sich an solchen Themen. Nicht zu vergessen: Einige Akte-Redakteure haben mittlerweile andere Arbeitsplätze, das "Akte"-Prinzip erreicht also immer mehr Redaktionen, so dass die Suche nach neuen Themen und Fällen ebenso anspruchsvoll geworden ist wie die Aufbereitung.

DWDL: Jetzt lebt im deutschen Fernsehen derzeit das Format der schnell gedrehten DokuSoaps auf, in denen auch Zollbeamte, Ordnungshüter oder Kammerjäger bei ihrer Arbeit begleitet wurden. Ein Risiko für Akte?

Ulrich Meyer: Diese 1:1-Begleitung von Wirklichkeit, die überhaupt keinen Tiefgang hat, mir aber Sichtweisen ermöglicht, die ich sonst nicht kennenlernen würde und somit Voyeurismus pur ist, kann unterhalten - mehr aber nicht. Selbst ich ertappe mich dabei, bei solchen Sendungen hängen zu bleiben, bis ich mich nach fünf Minuten frage, was ich dort eigentlich erfahre. Das funktioniert zur Zeit noch, weil es einfach zu konsumieren ist und ein Erzähltempo vorgibt, bei dem der Zuschauer nicht einmal aufmerksam sein muss.

DWDL: Aber auch Akte muss auf die Quote achten. Wie viel Information, wie viel Erklärung darf also sein?

Ulrich Meyer: Redaktionsintern wird bei uns häufig und immer wieder heftig diskutiert, wie viel wir den Zuschauern erklären müssen. „Akte“ hatte immer den Anspruch zu erläutern, aufzudecken und zu erklären. Gerade jüngere Zuschauer sind aber auch immer öfter bereit, Zusammenhänge mal vor sich ablaufen zu lassen, ohne alles begreifen zu wollen, was gerade bei politischen Themen sehr stark feststellbar ist. Meine Haltung: So viel Erklärung wie erforderlich, damit jeder Zuschauer das Thema versteht.

DWDL: Wie kann „Akte“ trockenere Themen dennoch quoten-freundlich verpacken?

Ulrich Meyer: Man muss sich permanent neu erfinden. Dazu gehört auch eine lange Diskussion in der Redaktion darüber, ob ein Split-Screen-Verfahren, also die Aufteilung des Bildschirmes in verschiedene Segmente, die wiederum mit verschiedenen Bildern belegt werden können, die Sendung schneller und dynamischer erscheinen lässt und die schlicht notwendigen Erklärstrecken für den Zuschauer leichter daher kommen. Das sind Extravaganzen, mit denen man permanent liebäugelt, auch um sich abzuheben. Die Substanz der redaktionellen Arbeitsweise bleibt dabei gleich, aber die Verpackung muss sich der Zeit anpassen.

DWDL: Abheben muss sich „Akte“ in erster Linie von ihrer RTL-Konkurrenz „Extra“. Wie unterscheiden sie sich voneinander?

Ulrich Meyer: Wir hatten vor einigen Monaten eine Reportage über einen Flugzeugabsturz in der Türkei, bei dem ein Deutsch-Türke seinen Bruder verloren und Klage gegen die Fluggesellschaft erhoben hat. Wir haben vor Ort recherchiert, haben den Fall bis ins Detail aufgearbeitet. Das war teuer, und hat nicht viel Quote gebracht. Das würde „Extra“ nie machen. Wir leisten es uns aber immer wieder, weil wir das journalistisch können und vom Sender auch das Okay für solche aufwändigen Themen bekommen.

DWDL: Quotenträchtiger scheinen da Themen rund um „eBay“, ein häufiger Bestandteil von „Akte“. Ist diese regelmäßige Wiederholung von ähnlichen Themen keine Gefahr?

Ulrich Meyer: Ich sehe darin keine Gefahr, denn alle Beiträge unterscheiden sich voneinander und treffen gerade dadurch den Nerv der Zuschauer. Schauen Sie sich die Zeitschrift „Capital“ an. Die lebt davon, jedes Jahr die gleichen Themen neu aufzulegen: den Renten-, Gehalts-, Versicherungs- oder Aktiencheck. Und das ist keine Gefahr für das Magazin, das ist im Gegenteil der Kaufgrund. Darüber hinaus ist es unser Job, wenn es um quotenträchtige Themen wie etwa Heizkostenabrechnung oder eben auch eBay geht, regelmäßig zu prüfen und recherchieren, ob es neue Aspekte zu diesen Themen gibt. Das ist schwer, aber lohnt sich – für uns und für den Zuschauer.

Foto: Roland HornDWDL: Auch innerhalb der eigenen Sendergruppe gibt es mit Sendungen wie „Focus TV“ oder den K1-Magazinen Konkurrenz. Gibt es da eine Aufgabenteilung oder Absprache?

Ulrich Meyer: Nein. Das Profil ihrer Sendung müssen die Produzenten schon selbst schärfen. Die Sender der ProSiebenSAT.1 AG sind auf unterschiedliche Zielgruppen zugeschnitten. Sat.1 widmet sich dabei verstärkt den 30- bis 49-Jährigen, während ProSieben die jüngere Zuschauerschaft anspricht. Allein das unterscheidet schon die Themen. Ein Beitrag über Schutz vor Einbrechern interessiert den 22-jährigen Studenten im Wohnheim viel weniger als den 46-jährigen Familienvater mit Eigenheim. Natürlich ist auch ein Thema wie Piercing für uns interessant, aber aus anderem Blickwinkel: Wir informieren nicht die Tochter, die sich piercen lassen will, sondern die Mutter, die sich eventuell Sorgen macht.

DWDL: Im vergangenen Jahre war „Akte“ einige Wochen lang in doppelter Länge auf Sendung - mit guten Quoten. Ist das auch für die Zukunft eine Perspektive?

Ulrich Meyer: Die „Doppelakte“ im vergangenen Jahr, also mit zwei Stunden Dauer, zehn statt fünf Beiträgen und mehr Aktionen im Studio konnten wir ausprobieren, so lange Anke Engelke noch nicht auf Sendung war. Wir hatten damit in der Zielgruppe aus dem Stand heraus im Schnitt gut 15 Prozent, was umso bemerkenswerter ist, weil es nicht beworben wurde. Ich denke, wir könnten „Akte“ in dieser langen Form gleichwertig zu „Stern TV“ platzieren.

DWDL: Darüber würde es wenn dann sicher persönliche Verhandlungen mit Herrn Schawinski geben. Hat sich das Verhältnis und die Zusammenarbeit mit SAT.1 unter Schawinski gegenüber dem Hoffmannschen SAT.1 geändert?

Ulrich Meyer: Sie müssen sich vor Augen führen, dass dieses TV-Geschäft ein „People‘s Business“ ist. Unter einem Produktionsvertrag stehen drei Namen: Der des Sender-Geschäftsführers, des Stellvertreters und meiner. Das ist ein Deal unter drei Leuten, und der muss funktionieren, da muss die Chemie stimmen. Und um ihre Frage also zu beantworten: Die Chemie mit Sat.1 stimmt weiterhin.

DWDL: Als unabhängiger Produzent waren Sie mit Meta Productions kein Teil der Nachrichtenoffensive bei SAT.1. Dennoch haben Sie jahrelang die SAT.1-Nachrichten moderiert. Ein Wort zu Thomas Kausch liegt also nahe...

Ulrich Meyer: Thomas Kausch macht das gut, so gut wie man es mit dem Apparat machen kann, der zur Verfügung steht. Es ist gerade im Bereich des Nachrichtenwesens in der Vergangenheit viel umstrukturiert und eingespart worden. Was Kausch und sein Team damit auf die Beine stellen, liegt schon nah am Optimum. Jetzt gilt es, nach den Mühen der Berge auch die Mühen der Ebene zu überstehen, die Sendung also auf diesem Level einige Jahre durchzuhalten. Thomas Kausch hat den Vorteil, mit „Lenßen & Partner“ ein hervorragendes Vorprogramm zu haben, was es in dieser Art und Weise in der Vergangenheit bei Sat.1 um 18 Uhr nie gab. Darauf lässt sich aufbauen.

DWDL: Wie viel Meyer wird es künftig bei SAT.1 noch außerhalb von „Akte“ geben. Bei SAT.1 wird derzeit auch ein Politiktalk geplant...

Ulrich Meyer: Das wird der Sender entscheiden. Als unabhängiger Produzent schlage ich auch Sat.1 permanent neue Formatideen vor. Das ist das Geschäft.

DWDL: Ein einmaliger Talk-Versuch mit Herrn Strunz im vergangenen Jahr lief nicht sehr erfolgreich am Sonntagabend. Was macht Sie sicher, dass Sie es erfolgreicher machen könnten?

Ulrich Meyer: Es war sehr wohl ein Erfolg. Zweistellig im werberelevanten Zuschauersegment – und das aus dem Stand heraus. Man muss wissen, welche unglaublich hohe Hürde es ist, im Privatfernsehen zu prominenter Sendezeit eine politische Talkshow zu etablieren, die Zuschauer über zwei Werbeblöcke hält. Damit so ein Projekt langfristig Bestand hat, müssen Sie in der Zielgruppe 10 bis 11 Prozent vorweisen können, sonst scheitert der Versuch. Und zwar auf Dauer.

DWDL: Wie müsste eine neue SAT.1-Talkshow Ihrer Meinung nach aussehen? Mehr „Hart aber Fair“ als Christiansen-Kuscheltalk?

Ulrich Meyer: Der Sender hat da sehr genaue Vorstellungen – mit einem Format, das es so in Deutschland nicht gibt. Lassen Sie sich überraschen.

DWDL: Vom Produzieren zum Konsumieren: Was schaut Ulrich Meyer privat?

Ulrich Meyer: Ich bin absoluter Jerry-Bruckheimer-Fan, verfolge dementsprechend „CSI“ und „CSI: Miami“. Und ich bin sehr dankbar über den Erfolg von „Navy CIS“, was uns als Vorprogramm der Akte am Donnerstag nützt. Ich habe großen Respekt vor dem ZDF, das sich traut, eine Reihe wie „Metropolis - Städte der Antike“ ins Programm zu nehmen. Und ich liebe Hugo Egon Balder, der wie kein zweiter in Deutschland erfahren hat, dass Produzent sein in erster Linie durchhalten heißt. Individuelle Qualität setzt sich durch – auch wenn es manchmal dauert.

DWDL: Vom abendlichen Fernsehprogramm zur morgendlichen Info-Lektüre: Wie starten sie nachrichtentechnisch in den Arbeitstag?

Ulrich Meyer: Der Wecker klingelt, und ich greif zur TV-Fernbedienung: Ich sauge die Morgenmagazine ein von News bis Klatsch. Da kann ich schon mal zwanzig Minuten hängen bleiben. Dann überfliege ich zuhause meine Standardlektüren. In der Reihenfolge Bild, Berliner Zeitung, Tagesspiegel, Süddeutsche und taz. Dabei sind mir die Aufhänger, die Kommentare und Überschriften wichtiger als die Inhalte, die ich ohnehin den ganzen Vortag über im Internet verfolgt habe und nicht morgens nachlesen muss.

DWDL: Dann bleibt uns noch die allerletzte Frage, ein Klassiker bei DWDL: Wie übersetzen Sie unser Kürzel?

Ulrich Meyer: Das was dauernd läuft. Ein dauerhaft laufendes Produkt am Markt halten zu können, ist der größte Erfolg, den man haben kann.

DWDL: Herzlichen Dank für das Gespräch.

Das Gespräch führten Thomas Lückerath und Sebastian Ludwig