Annette Hess © Privat
Frau Hess, die dritte Staffel "Weissensee" beginnt mit dem Mauerfall. War das für Sie beim Schreiben etwas anderes als in den Staffeln davor, weil alle Deutschen damit etwas verbinden?

Es war natürlich eine Herausforderung, dieses Ereignis so zu erzählen, dass man nicht denkt: "Och, nee, das habe ich doch schon gesehen!". Der Mauerfall ist ja schon vorher gefühlt hundertfach aufbereitet worden. Ich habe dann versucht, einen etwas originelleren Zugang zu finden. Außerdem hoffe ich darauf, dass man es spannend und neu findet, weil man die Figuren kennt und mag, sich mit ihnen identifiziert und mit ihnen aus verschiedenen Perspektiven den Mauerfall erlebt. Man sieht, wie die Kupfers am Morgen des 9. November aufstehen und denkt: "Oha, die wissen noch gar nicht, was sie heute erwartet". Was mich zu dieser dritten Staffel inspiriert hat, war die Frage, wie es direkt nach dem Mauerfall weiterging - im Grunde: Was passiert, wenn der Prinz die Prinzessin geheiratet hat? Die meisten Filme enden ja immer in dieser Euphorie am Brandenburger Tor. Aber wir erzählen am nächsten Morgen weiter, von den unglaublich ereignisreichen Wochen nach dem 9. November bis zum Sturm auf das Ministerium für Staatssicherheit am 15. Januar 1990. 

Wie haben Sie denn selbst den Mauerfall erlebt?

Ich war damals in Hamburg auf einem 80. Geburtstag. Da kamen verspätete Gäste herein - die sagten weder "Herzlichen Glückwunsch!" noch "Guten Abend!", sondern nur "Die Mauer ist auf!". Wir anderen haben natürlich gedacht: "So ein Quatsch!". Aber dann haben wir den Fernseher eingeschaltet - so ein kleines Ding, um den sich dann alle Gäste herumgestellt haben. Wir haben auf den Bildschirm gestarrt und konnten es nicht glauben. Es liefen Tränen, gerade bei den Älteren. Ich war damals 22. Und ich muss heute immer noch weinen, wenn ich die Bilder sehe. 

Haben Sie in dem Moment gedacht: "Damit muss ich mich später mal beschäftigen? Das will ich später mal aufarbeiten?"

Nein, nicht in dem Moment. Ich habe schon früh eine Faszination für die DDR gehabt - zunächst aufgrund der Tatsache, dass da eine Mauer drum herum gebaut war. Als Kind hat mich sehr beschäftigt, dass da Deutsche leben, die eingesperrt sind. Und dann konnten wir irgendwann DDR-Fernsehen empfangen - ich war schon damals fernsehverrückt und hatte einen Fernseher in meinem Zimmer, schon mit zehn. Es gab ja eigentlich nur vier Programme - das Erste, das Zweite und das Dritte, bei uns war das der NDR - und dann eben das sogenannte 'Vierte', das DDR-Fernsehen. Und das habe ich mehr geguckt als die anderen drei: Die russischen Avantgarde-Klassiker wie "Panzerkreuzer Potemkin" einerseits, "Musik nach Noten" oder "English for you" andererseits - ich habe mir alles angesehen. Familienserien und auch die Polizeirufe 110. Das war absurderweise meine Fluchtwelt. Ich bin als Teenager in Gedanken geflohen in die DDR, obwohl das ein Unrechtssystem war - aber das habe ich erst später verstanden. Zweimal war ich dann auch zu Besuch drüben: einmal zur obligatorischen Klassenfahrt in Berlin. Und einmal haben wir haben entfernte Verwandte in Ost-Berlin besucht. Diese Atmosphäre habe ich bis heute nicht vergessen. Der ganze Besuch wirkte wie in ein surrealer Film. Überall an Häusern und Straßen sichtbare Zeichen das Verfalls, aber an jeder Ecke ein Zuckerwatteverkäufer. Mitten in der Unterhaltung beim Essen mussten wir zu flüstern anfangen - die systemtreue Nachbarin war zurückgekehrt. Und als wir wieder zurück an die Grenze kamen, haben die Grenzer unser ganzes Gepäck aus dem Auto gerissen, sogar die Rückbank. Meine kleine Schwester und ich, ich war 13, wir haben gespürt, dass meine Eltern Angst hatten, was sehr bedrohlich war. Wir dachten in diesem Moment alle: "Die lassen uns nicht mehr raus!"

Ursprünglich war die Serie als Miniserie gedacht, in der der Mauerfall nicht vorkommt. Hatten Sie trotzdem die ganze Zeit im Hinterkopf: Das schreibe ich auf dieses große Ereignis hin?

Nein, das hatte ich nicht. Ich habe zu Regina Ziegler, der Produzentin, gesagt: "Lass uns eine Miniserie machen, die 1980 in der DDR spielt." Und sie sagte dann begeistert: "Die können wir ja bis heute weitererzählen!" Natürlich wollten die vom Sender erstmal gucken, ob die Zuschauer das überhaupt wollen. Aber es hieß dann schnell: "Wir brauchen ein Konzept für die zweite Staffel". Ich wollte, dass die erste Staffel in der DDR in einer Zeit spielt, in der noch nicht absehbar war, dass sie zusammenbrechen wird. In der es noch Hoffnung für den Sozialismus gab. Deshalb spielt sie in den Jahren 1980 und 1981. Für die zweite Staffel haben wir dann diskutiert, ob wir chronologisch direkt weitererzählen oder einen anderen Zeitpunkt wählen. Ich bin dann auf 1986/87 gekommen, weil es da im Zusammenhang mit der Verhaftung von Umweltbibliothek-Aktivisten den ersten offenen Widerstand von normalen Bürgern gab. Menschen, die sich mit Kerzen zu Mahnwachen vor Kirchen versammelt haben, auch angeheizt von Westmedien. Und die Stasi musste zum ersten Mal Bürgerrechtler wieder freilassen, ist also eingeknickt. Das war ein Wendepunkt, der Untergang der DDR war eingeläutet. Den Zeitraum für die dritte Staffel zu finden, das ging ganz schnell. Die Wochen und Monate direkt nach dem Mauerfall waren ungeheuer aufregend, anarchisch, niemand wusste, wohin die Reise geht. Dennoch blieb es friedlich. Und diese Zeit der runden Tische ist fiktiv auch noch nicht erzählt worden.  

Die erste Folge der dritten Staffel "Weissensee" spielt am 9. November 1989: Martin (Florian Lukas, Mitte links) und Roman (Ferdinand Lehmann, Mitte rechts) am Grenzübergang Bornholmer Straße.

Werden Sie denn an einer möglichen vierten Staffel wieder mitarbeiten?

Es gibt Pläne für eine vierte Staffel. Aber ich habe keine Zeit dafür, weil ich an einer anderen Serie arbeite. 

Und ist es schwer, "Weissensee" aus den Händen zu geben?

Nein, weil ich andere, neue Projekte habe, die mir sehr am Herzen liegen. Ich habe mich damit auch lange genug beschäftigt. Wenn ich merke, die Ideen fliegen mir nicht mehr zu, wenn man sich anstrengen muss bei der Frage: "Was kann jetzt noch passieren mit den Figuren?", dann fängt man an, zu konstruieren. Klar kann ich auch immer Handwerk abliefern - aber die Geschichten haben dann keine Seele mehr. Das macht weder mich beim Schreiben zufrieden noch am Ende den Zuschauer.

Ist das auch der Grund, warum Sie für die zweite Staffel nicht als Autorin geführt werden?

Nein. Das lag daran, dass das Arbeiten bei der zweiten Staffel schwierig war. Bei der ersten Staffel konnte ich nahezu machen, was ich wollte. Es gab keine Vorstellungen, das Format war neu. Aber bei der zweiten Staffel wollten sehr viele mitreden. Das ist übrigens das bei Autoren gefürchtete "Zweite-Staffel-Syndrom". Naturgemäß haben alle plötzlich Vorstellungen, wie sich die Figuren entwickeln sollen - die Schauspieler, der Regisseur. Und natürlich konnte ich mit meinen ersten Entwürfen nicht alle Vorstellungen befriedigen. Es war ein langwieriges Hin-und-Her. Ich habe dann die Konzeption für die Staffel und die erste Fassung für jede Folge geschrieben. Dann sind die Fassungen bearbeitet worden, während ich mit anderen Projekten beschäftigt war. 

Und wie kommt es, dass Sie für die dritte Staffel nun wieder als Autorin an Bord gekommen sind? Sie hätten ja auch sagen können: Dann lass ich es eben, sollen die dritte Staffel alleine weitermachen, da muss ich nicht mehr mitmischen.

Na, ich hatte Zeit und Lust, das zu machen. Und wir waren uns alle einig: Wir haben gelernt aus der Arbeit für die zweite Staffel, wir gehen die dritte Staffel anders an. Und das haben wir auch gemacht - in der Bucharbeit ist alles harmonisch gelaufen. Und es war von vorne herein klar, dass ich zwar die Konzeption für die gesamte Staffel, aber nur die ersten drei Folgen schreiben würde. 

Über die deutsche Serienlandschaft wird ja gerade sehr viel diskutiert. Merken Sie in Ihrer täglichen Arbeit, dass sich da etwas verändert?

Ja, natürlich. Alle schreiben und entwickeln ja gerade Serienkonzepte wie die Bekloppten. Ich bekomme gefühlt jeden Tag zwei Anrufe von Produzenten: "Hier, ich hab 'ne Idee für eine Serie. Pass auf..." Manchmal kommt es mir so vor, als gäbe es so eine Liste mit historischen Wendepunkten, Familienkonzerngeschichten und deutschen Biografien, die man alle mal in einer Serie erzählen könnte. Gut, gehen tut alles. Denn nicht das 'Was' ist ja das Entscheidende, sondern das 'Wie'. Zum Glück wird auch bei der künstlerischen Freiheit gerade viel mehr möglich. Aber gleichzeitig müssen natürlich die Öffentlich-Rechtlichen um ihre Zuschauer kämpfen - weil diese schlicht und ergreifend wegsterben. Meine Töchter zum Beispiel gucken kein Fernsehen mehr. Und wenn ich mal vorschlage, einen Film anzusehen, fragen sie leicht angewidert: "Och, ist der etwa deutsch?" (lacht) Da merke ich es ja direkt: Die Leute, die verlässlich den Fernseher einschalten, die gibt es bald nicht mehr. 

Denken Sie denn, dass Serien der richtige Weg für die Öffentlich-Rechtlichen sind, um die Jüngeren wieder anzulocken?

Ich finde es einen Versuch wert. Das hört sich jetzt so simpel an, denn es ist natürlich ein wahnsinniger Aufwand, Geld und Zeit, das da reingepumpt wird. Das ZDF zum Beispiel unternimmt richtige Anstrengungen, einen guten Sendeplatz für Serien zu finden, sich gut zu überlegen: "Wann können wir diese oder jene Serie am besten zeigen?" Genug gute Format sind ja schon quasi unter Ausschluss der Öffentlichkeit gelaufen. Es gibt da auch wirklich tolle Redakteure, die dafür kämpfen, dass die Projekte mutiger und unkonventioneller werden. Es wird ja immer draufgehauen auf die Verantwortlichen in den Sendern. Das ist so pauschal ungerecht den leidenschaftlich Engagierten gegenüber. Und gerade in der letzten Zeit mache ich zum Glück ganz andere Erfahrungen.

An welcher Serie arbeiten Sie gerade?

An einer Miniserie für das ZDF, "Kudamm ’56". Die Serie spielt 1956 in Berlin in einer Tanzschule, wo der Rock’n’Roll die Herrschaft übernimmt. Es wird getanzt, Hauptdarsteller fliegen durch die Luft - aber es ist natürlich auch die dramatische und berührende Geschichte einer Mutter und ihren drei Töchtern. Jetzt wird gerade gedreht. Und die Schauspieler haben dazu noch aufreibende Tanzproben. Das Projekt ist eine neue Erfahrung für mich, weil ich hier von vorne herein ein Mitspracherecht bei Regie, Cast und Gestaltung vereinbart habe. Ich bin im täglichen Austausch mit dem Producer, trage alle wichtigen Entscheidungen mit, bin in Kontakt mit den Schauspielern, die mich ansprechen: "Guck mal, der Satz ist komisch, kannst du den nochmal umschreiben?". Oder die Ausstattung ruft an und fragt mich was wegen irgendwelcher Muster. Oder ich weise darauf hin, dass eine Schauspielerin zu modern für die 50er Jahre spricht. Sonst habe ich das Buch abgegeben und habe erst zum Rohschnitt wieder etwas vom Projekt gehört beziehungsweise gesehen. Manchmal dann eben auch mit unangenehmen Überraschungen. Für mich macht es gerade sehr viel Sinn und Freude, dass ich das Projekt, das ja auch auf meiner Idee und Vision beruht, weiter mitgestalte.

Eine allerletzte Frage: Welche Serie gucken Sie gerade zum Vergnügen?

"Derek". Nicht zu verwechseln mit dem Horst-Tappert-Derrick, den ich allerdings auch mag, sondern ich meine die Serie von Ricky Gervais. Den finde ich sowieso großartig, Genies sind sehr selten, er ist eins! Und seine Serie ist das Beste, was ich je im Fernsehen gesehen habe. 

Frau Hess, herzlichen Dank für das Gespräch.

Die dritte Staffel "Weissensee" läuft ab heute Abend, 20.15 Uhr, an drei Abenden jeweils in Doppelfolgen im Ersten.

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