Mit „Grey’s Anatomy“, „Private Practice“, „Scandal“ und „How to Get Away with Murder“ hat Shonda Rhimes mehrere Hitserien erschaffen und wie keine andere Produzentin das US-Fernsehen der vergangenen Jahre beeinflusst. Mit Shondaland, ihrer Produktionsfirma, hat sie sich ein kleines Imperium errichtet. Für ihre Kreativität, ihr Unternehmertum und die Erfolge wurde Rhimes am Mittwochabend in Cannes mit der Auszeichnung „MIPCOM Personality of the Year“ geehrt. Zusammen mit Cast-Mitgliedern ihrer Serie hat sie bei der Fernsehmesse zuvor bereits die Werbetrommel gerührt. So feierte die zweite Staffel von „The Catch“ in Südfrankreich ihre Premiere. Im Rahmen eines Pressjunkets von ABC Disney im Hotel Majestic stand sie uns darüber hinaus Rede und Antwort - wenn auch nur kurz.

Shonda, in Ihrer Autobiografie beschreiben Sie sich selbst als introvertiertes Kind, dass Schwierigkeiten hatte Freunde zu finden und damals schon gerne Geschichten erfand. War das der Grundstein für Ihre Karriere?

Absolut. Ich glaube, ich würde nicht das tun, was ich in den vergangenen Jahren machen durfte, wenn ich ein Kind gewesen wäre, das immerzu mit lauter Freunden draußen gespielt hätte, statt Bücher zu lesen oder in der Speisekammer mit Vorratsdosen, erfundenen Dingen und Freunden zu spielen. Ich habe als Kind meine Zeit lieber alleine verbracht. So war ich damals halt und ich denke, dass aus dieser Situation in besonderem Maße Fantasie und Vorstellungskraft gewachsen sind.

Was für eine Entwicklung von der Einzelgängerin zur gefragtesten Geschichtenerzählerin im US-Fernsehen.

Ja, das war ein interessanter Weg. (überlegt) Man könnte sagen: Es war und ist ein toller Roadtrip und ich würde diese Karriere für nichts in der Welt tauschen wollen.

Gibt es denn ein Buch, das Sie als Kind mehr beeinflusst hat als jedes andere?

Nein, nichts was ich herausstellen würde. Aber meine Sammlung an Kinderbüchern, die ich übrigens immer noch habe, ist riesig. Ich glaube, das sind ehrlich gesagt mehr Kinderbücher, als ich Romane für Erwachsene besitze (lacht). Damals hatte ich, glaube ich, jedes Buch, das jemals für Kinder unter 14 geschrieben wurde. Die werden jetzt von meinen Kindern gelesen.

Ihre Serien tragen eine erkennbare Handschrift. Wie würden Sie die beschreiben und welche Zutaten gehören in eine Serie von Shonda Rhimes?

Ich glaube ganz ehrlich, dass es keine konkreten Zutaten gibt. Ich werde das sehr oft gefragt, aber ich glaube, wenn ich darüber länger nachdenken würde um das zu ergründen, wäre ich nicht mehr in der Lage zu schreiben. Es ist kontraproduktiv, den kreativen Prozess detailliert ergründen zu wollen. Wenn ich erst einmal wüsste, worin der Zauber liegt, würde er wohl nicht mehr funktionieren. Ein Journalist hat mir mal im Interview aufgedröselt, dass er ein Muster darin sehe, wie meine Charaktere reden und es hat fast mein Hirn explodieren lassen. Ich habe keine Formeln im Kopf.

Dann vielleicht anders gefragt: Wie schreiben Sie am effektivsten? Haben Sie ein Ritual oder einen Rückzugsort?

Ich habe vor langer Zeit bei mir selbst festgestellt, dass ich am besten schreiben kann, wenn ich Kopfhörer auf habe und Musik höre. Das kann dann überall sein, solange ich Musik auf dem Ohr habe. Es gibt also keinen speziellen Rückzugsort oder ein Ritual.

Shondaland wurde größer und größer. Wie viel Shonda Rhimes steckt in Ihren Serien? Wie sieht der Entstehungsprozess bei Ihren Serien aus?

Meine Writers Rooms sind sehr unterschiedlich. Bei „Scandal“ zum Beispiel ist das eine sehr kleine Gruppe von etwa acht Leuten, die gemeinsam in einem Raum sitzen - und dass den ganzen Tag lang. Wir entwickeln die Storylines, diskutieren, hängen Ideen ans Brett, überlegen, nehmen es wieder runter, denken nochmal neu. Die gesamte Serie entsteht in diesem Raum. Da verbringt man viel Zeit miteinander. Bei „Scandal“ mit all seinen schnellen Entwicklungen und Wendungen haben wir ein klares Verständnis mit den Schauspielern: Wir schreiben die Serie und sie spielen exakt das, was wir schreiben. Dann schaue ich mir an, wie sie spielen und renne wieder nach oben zurück in den Writers Room: „Okay, Leute. Jetzt weiß ich, wie wir weitermachen.“ Die Serie entsteht von Moment zu Moment. Die Skripte für die Table Reads der Schauspieler kommen immer noch warm aus dem Drucker.

Und wie sieht es bei „Grey’s Anatomy“ aus?

Bei „Scandal“ geht jedes Skript über mein Notebook. Bei „Grey's“ ist das sehr anders. Wir haben 14 bis 15 Autoren, die in bis zu drei Räumen sitzen und parallel an verschiedenen Storylines arbeiten. Es gibt ganze Episoden, die von einer Autorin oder einem Autoren allein geschrieben werden. Ich bin der Storyteller bei „Grey's“ und gebe vor, was als nächstes passieren soll. Aber die Umsetzung dieser Richtung liegt dann in den Händen und Köpfen dieser unglaublich talentierten Kollegen. Die meisten sind so lange dabei, dass sie die Tonalität der Show sehr gut kennen. Ich komme vorbei und gebe vor, was mit den Charakteren passieren wird, aber schreibe nicht mehr jedes Skript um.

Shonda Rhimes© MIPCOM

Produzentin Shonda Rhimes mit Paul Zilk, CEO von MIPCOM-Veranstalter Reed Midem, bei der Preisverleihung am Mittwochabend

In einer Zeit, in der alle von Kabel-Serien und VoD-Produktionen schwärmen, halten Sie die Fahne hoch für werbefinanziertes Network-Fernsehen. Was reizt Sie daran?

Ich verstehe den Reiz von Cable und VoD und bin durchaus fasziniert von der Idee, eine Cable-Serie zu machen. Vielleicht wird meine nächste Serie eine Produktion für Cable. Ich weiß es nicht. Da ich bislang nur Network Television gemacht habe, fällt es mir schwer zu vergleichen. Ich liebe es, Serien für ein Network zu machen, weil es ein viel größeres Publikum erreicht. Cable und VoD sind für ein Nischenpublikum, einen kleineren und ausgesuchteren Kreis. Ich schreibe sehr gerne für ein breites Publikum. „Grey’s“ wird geguckt von jung und alt. Und es ist ein schönes Gefühl, an einer Serie zu arbeiten, die so viele Menschen erreicht und berührt.

Ihre Serien laufen Woche für Woche …

… und ich liebe die wöchentliche Ausstrahlung, weil es einmal online dank Twitter und Facebook und auch am nächsten Morgen im Büro oder auf dem Schulhof die Möglichkeit gibt, sich darüber auszutauschen. Selbst die Werbepausen ermöglichen diese „OMG, was war das denn?“-Unterhaltungen. Das macht Fernsehen zu einem Gemeinschaftserlebnis. Es hat eine unglaubliche Faszination, wenn man weiß, dass ein gewisser Moment zum Beispiel bei „Scandal“ alle Fans schocken wird und dass das beim Großteil der Fans, die es live schauen, im gleichen Moment passiert.

Sie gelten als Workaholic. Wenn Sie eine Woche lang mal keinen Gedanken an eines Ihrer Projekte verschwenden müssten, was würde Shonda Rhimes tun?

(lacht) Von so einer Situation habe ich schon häufiger geträumt. Zeit für sich zu haben, ist sehr wertvoll und ich musste es auch erst lernen, dass manchmal eine Auszeit hilft, danach weitaus kreativer zu sein. Was ich machen würde? Vermutlich einfach gar nichts. Aber es fällt so schwer, sich vorzustellen, nicht doch diese eine E-Mail zu beantworten oder diesen einen Anruf zu tätigen. (überlegt) Es wäre schon wunderbar.

„Scandal“ und „How to get away with murder“ haben starke schwarze Frauen in den Hauptrollen. War Ihnen das ein Anliegen? Es wird Ihnen ja hoch angerechnet.

Mir war es ein Anliegen, „Scandal“ zu produzieren, weil ich die Serienidee so geliebt habe. Nun basiert die Serie auf dem Leben einer schwarzen Frau, so dass es sich ergab, dass Olivia Pope eine schwarze Frau sein sollte. Die Rolle der Annalise Keating in „How to get away with murder“... (überlegt) da weiß ich gerade gar nicht mehr, welche Schauspielerin wir da zunächst im Kopf hatten. Die Rolle hätte an jeden gehen können. Wir hätten im Traum nicht daran gedacht, dass wir Viola Davis dafür gewinnen könnten. Als sie zusagte, zum Table Read zu kommen, waren wir schon sprachlos. Und dass sie es letztlich geworden ist, war dann nicht, weil Viola Davis schwarz ist - sondern weil sie Viola Davis ist.

Ihre Serien greifen - nicht nur bei „Scandal“ - immer wieder gesellschaftliche Themen auf und beziehen auch Haltung. Ist Ihnen das wichtig?

Es sind hier und da politische Kommentare oder zumindest Haltung zu gesellschaftlichen oder politischen Themen in den Serien, aber es ist nicht so, als wenn das mein Ziel wäre. Ich möchte unterhalten und nicht belehren. Ich habe keine Agenda, die ich verfolge. Es gab nur sehr sehr selten die Situation, in der wir bewusst ein Thema aufgreifen.

Wenn man sich den US-Wahlkampf anschaut: Das Skript ist doch unglaublich, oder?

(lacht) Bei der Politik in den USA denke ich mir manchmal: Oh Gott, jetzt passiert doch hoffentlich nichts, was wir uns bei „Scandal“ ausgedacht haben.

Wird es Zeit für die erste US-Präsidentin?

Es ist schon immer Zeit für eine Präsidentin. Nein, diesmal ist es Zeit für Hillary Clinton. Weil sie Hillary Clinton ist und nicht weil sie eine Frau ist.

Shonda, herzlichen Dank für das Gespräch.