Herr Cerne, erinnern Sie sich noch an den Moment, als Ihnen die Moderation von "Aktenzeichen XY" angeboten wurde?

Der Moment ist noch immer gegenwärtig. Ich war damals bei der Tour de France als Moderator im Einsatz, es war der drittletzte Tag und ich befand mich bereits etwas ausgelaugt auf dem Heimweg. Plötzlich ging das Telefon und eine Dame aus dem ZDF sagte, sie wolle mich mit Hans Janke verbinden, dem damaligen stellvertretenden Programmdirektor. Da nimmst du innerlich erst mal Haltung an. Es folgte ein sehr nettes Gespräch, in dem er gleich mit der Tür ins Haus fiel und mir die Moderation für "XY" anbot. Das hat sofort einige Gedanken losgetreten.

Sie haben gezögert?

Ich bin zuvor schon einmal von der Versteckten Kamera angefunkt worden, aber nicht drauf reingefallen. Da wird man vorsichtig. (lacht) Aber mir wurde schnell klar, dass es dem ZDF ernst ist. Also bin ich in mich gegangen und habe mir gut überlegt, ob ich das machen will – eine solche Sendung ist schließlich ein komplett anderes Genre. Davon abgesehen stand es damals um "Aktenzeichen XY… ungelöst" nicht am besten, sodass ich im schlimmsten Falle derjenige gewesen wäre, der die Sendung zu Grabe trägt.

Trotzdem haben Sie sich dafür entschieden.

Es hat zwei spezielle Momente gegeben, die letztlich entscheidend waren – etwa, als ich vertretungsweise den "Fernsehgarten" für die damals schwangere Andrea Kiewel moderiert habe. Im Rahmen dieser Sendung hatten wir eine Hundestaffelführerin der Johanniter Unfallhilfe zu Gast. Ich bin damals vom Konzept abgewichen und habe ihr eine Frage gestellt, die nicht geplant war: "Wann ist der Schäferhund denn das letzte Mal im Einsatz gewesen?". Woraufhin sie antwortete: "Als die kleine Julia verbrannt bei Gießen gefunden wurde". Das passte natürlich gar nicht in das Konzept des "Fernsehgartens".

Und der andere Moment?

Da stand ich in einem Polizeirevier, weil mein Auto aufgebrochen wurde. Es war Sonntag und das Revier spärlich besetzt. Als ich im Vorraum warten musste, wurde ich auf die vielen Plakate vermisster Menschen aufmerksam. Kinder, Jugendliche, Erwachsene. Plötzlich dachte ich darüber nach, wie es sein kann, dass so etwas gar nicht publik ist. Man hört natürlich von den dramatischen Fällen, aber die Verzweiflung muss bei diesen Menschen, die ihre Liebsten ebenso vermissen, doch mindestens genauso groß sein. Das war für mich ein Fingerzeig. Sport ist für mich nach wie vor die schönste Nebensache der Welt, aber das ist eine andere Realität.

Haben Sie ursprünglich überhaupt darüber nachgedacht, etwas abseits des Sports zu machen?

Nein, ich habe das nicht vorangetrieben. Ich hatte zwar mal Benefizgalas moderiert und fand es spannend, in einen anderen Bereich schnuppern zu können, doch im Sport war ich immer bestens ausgelastet.

"Wir sind im Moment die Sendung der Stunde."
Rudi Cerne

Hatten Sie im Vorfeld Ihrer "XY"-Premiere Kontakt zu Eduard Zimmermann, der das Format einst aus der Taufe hob?

Es gab den Kontakt, nachdem ich eingeschlagen hatte. Kurz nach meiner Zusage rief Zimmermann bei mir an. Wir haben uns dann noch einmal getroffen, um die inhaltlichen Details zu besprechen.

Sie haben eben selber gesagt, dass es um die Sendung damals nicht wirklich rosig stand. Viele meinten, "XY" habe seine beste Zeit hinter sich. Warum haben sich diese Menschen getäuscht?

Dafür gibt es sicher viele Gründe. Durch all das, was in der Welt so passiert, steigt das Sicherheitsbedürfnis bei den Menschen. So gesehen sind wir im Moment die Sendung der Stunde. Gleichzeitig haben wir an vielen Stellschrauben gedreht. Das hatte vor allem kosmetische Gründe, denn unseren Programmkern haben wir bis heute nicht verlassen. Wie Sie wissen, komme ich ja aus dem Eiskunstlaufen. Für eine gute Kür reicht es nicht aus, technisch gut zu sein. Auch die Choreografie muss stimmen. Wichtig war beispielsweise die Verlängerung auf 90 Minuten – im Übrigen eine Idee von Thomas Bellut. Wie sich gezeigt hat, ist das wesentlich besser für die Vermittlung der einzelnen Fälle. Wenn man ein Tötungsdelikt zeigt, weiß der Zuschauer ja, dass das Opfer nicht überleben wird. Er muss jedoch – im Sinne möglicher Hinweise – wissen, was das für ein Mensch ist und Nähe aufbauen. Das klappt nur mit einer längeren Laufzeit.

Dabei wird den Zuschauern heute doch im Allgemeinen eine kürzere Aufmerksamkeitsspanne nachgesagt.

Bei uns gibt es auch einen langen, ausführlichen Abspann, bei dem alle Fälle der Sendung noch mal kurz aufscheinen. Für die Sehgewohnheit des Zuschauers ist dieser Abspann sicher lang, der nachfolgenden Sendung tut das trotzdem keinen Abbruch.

Immer wieder wird kritisiert, dass die dramaturgischen Mittel bei "XY" inzwischen vielleicht etwas zu stark ausgereizt werden. Wie sehen Sie das?

Wir bleiben prinzipiell immer bei der Wahrheit, denn nichts ist schlimmer als die Realität. Nehmen Sie den 68-jährigen Bäckermeister, der durch Eindringlinge mit einem heißen Bügeleisen gefoltert wurde, um aus ihm die Information herauszupressen, wo er sein Geld versteckt hat. Ein Fünftel seiner Haut wurde dadurch verbrannt. Das haben wir nicht gezeigt, sondern nur angedeutet. Man hätte das Geschehene sicher noch dramatischer zeigen können, aber wir haben uns auf das Nötigste beschränkt und das war schon schlimm genug.

Wie hat sich Ihre eigene Sicht auf Sicherheit verändert?

Die hat sich überhaupt nicht verändert. Meine Vorsicht hat sich durch "XY" allerdings bestätigt. Ich bin kein ängstlicher, aber ein vorsichtiger Mensch und wusste schon immer, wie sich brenzlige Situationen vermeiden lassen. Ich komme aus dem Ruhrpott und das ist nach wie vor ein Schmelztiegel, da fängt man mit so etwas an. Große Teile meiner Jugend habe ich auf der Straße verbracht, wo es viele Versuchungen und Verlockungen gab. Da hatte ich auch einige Schutzengel bei mir. Heute gehe ich mit offenen Augen vorsichtig, aber auch selbstbewusst durchs Leben.

"Aktenzeichen XY… ungelöst" wird 50 Jahre alt und ist auch bei den jüngeren Zuschauern äußerst erfolgreich. Das ist bei einem öffentlich-rechtlichen Sender ja nicht selbstverständlich. Wie lange kann es die Sendung noch geben?

Solange es Verbrechen gibt. Öffentlichkeitsfahndung ist doch existent, seit Papier bedruckt werden kann. Denken Sie nur an die Fahndungsfotos aus dem Wilden Westen mit dem Schriftzug "Wanted". Im Fernsehen ist die Fahndung noch einmal effektiver. Wir stellen die größtmögliche Öffentlichkeit her und darauf kommt es schließlich an.

Immer wieder haben sich auch andere Sender an Formaten dieser Art versucht, die meisten sind schon wieder verschwunden. Worauf führen Sie das zurück?

Wir sind das Original. Es ist doch bei vielen Dingen so, dass die Menschen das Original immer mehr wertschätzen als Kopien. Dennoch ist es auch bei uns wichtig, weiter an den Stellschrauben der Sendung zu drehen, auch wenn wir nichts revolutionieren sollten. Die Zuschauer wissen, was sie an uns haben. Sie wissen, dass wir präzise, verlässlich und vor allem ehrlich arbeiten. Das ist ein ganz wichtiger Punkt.

Können Sie eigentlich nach der Sendung abschalten?

Der Adrenalin-Spiegel hält mich mindestens bis Mitternacht auf Trab. Wenn wir um 21:45 Uhr fertig sind, reden wir meist noch eine Stunde mit den Ermittlern über die Ergebnisse. Oft kommen dann noch spannende Hinweise rein. Es ist immer wieder schön, die direkte Wirkung unserer Sendung mitzubekommen. Da kann man nicht gleich abschalten.

Herr Cerne, vielen Dank für das Gespräch.