2003: Mit "Frauentausch" startet eines der am längsten laufenden Formate bei RTL II, das wie kein anderes das Image des „Trashsenders“ transportiert. Bei der US-Serie „24“ wagt RTL II erstmals im deutschen Fernsehen eine Event-Programmierung und das Unternehmen RTL II gründet mit El Cartel Media eine eigene Vermarktungstochter.

Wie zeitgemäß ist "Frauentausch"?

Da zitiere ich jetzt Thomas Lückerath: Sie haben hier an diesem Tisch mal gesagt, dass doch eher die Hölle zufriert, als dass RTL II „Frauentausch“ absetzen wird (lacht). Also: Wenn ein Format 15 Jahre auf Sendung ist und noch immer Einschaltquoten über dem Senderdurchschnitt erzielt, dann ist das ein großer Wurf. „Frauentausch“ ist uns lieb und teuer. Es stimmt, gerade an diesem Format entzündet sich immer wieder die Trash-Debatte, aber es wird durchaus gerne von höher gebildeten Zielgruppen gesehen – gleichsam als sehr unterhaltsames Guilty Pleasure.

Wenn wir an "24" und die damals ungewöhnliche Programmierung denken: Braucht lineares Fernsehen im intensiveren Wettbewerb heute eher gelernte Sendeplätze für die Gewohnheit oder eher Event-Programmierungen um aufzufallen?

Der Wettbewerb der Bewegtbildangebote heute ist nicht mehr vergleichbar mit der Welt ohne Internet. Früher haben Sie Deutschland zuplakatiert und konnten sich sicher sein, dass das helfen würde. Dem ist nicht mehr so. Das macht Gewohnheiten und treue Zuschauer so wertvoll, wie z.B. bei unseren Soaps am Vorabend. Deshalb haben wir gerade mit „Schwestern“ noch ein drittes Format gestartet. Natürlich muss man aber auch versuchen aufzufallen. Das kann durch besondere Programmierungen gelingen, wie etwa bei „The Walking Dead“ oder „Game of Thrones“. RTL II war meines Wissens auch der erste Sender im deutschen Fernsehen, der mit „King of Queens“ US-Sitcoms in Doppel- und dann sogar Vierfachprogrammierung gezeigt hat. Wir haben bei ProSieben anfangs den Kopf geschüttelt (lacht). Man kann aber auch auffallen mit der richtigen Wahl der Themen. Das ist RTL II in den vergangenen zwei Jahren gut gelungen mit „Curvy Supermodel“ und auch unseren Dokumentationen „Armes Deutschland“ und „Hartz und herzlich“.

Macht es aus heutiger Sicht mit dem intensiveren Wettbwerb eigentlich Sinn, dass sich RTL II mit El Cartel Media singulär selbst vermarktet?

Wir sind in den vergangenen Jahren mit der Eigenvermarktung durch El Cartel Media gut gefahren. Wäre es in einer Portfolio-Vermarktung zum Beispiel bei der IP Deutschland noch besser gelaufen? Schwer zu sagen. Die Entscheidung für El Cartel Media ist im Jahr 2003 gefallen. Die kann ich nicht beurteilen oder ändern, aber feststeht: Wir haben uns positiv entwickelt mit einem Vermarkter, der so nah dran ist am Sender. Das ist zum Beispiel in Zeiten von Branded Entertainment eine besondere Qualität.

2004: Auf der Suche nach neuen Programmfarben stößt RTL II auf Bollywood und bringt indische Filme ins deutsche Fernsehen mit zeitweise sehr respektablen Quoten.

Aus der Not eine Tugend gemacht. Weil Hollywood-Output-Deals bei den großen Sendergruppen lagen, findet RTL II den Nachschub woanders. Eigentlich hätte RTL II „Die schlechtesten Filme aller Zeiten“ einfallen müssen.

(lacht) Interessanter Gedanke, aber wir gönnen unseren Nachbarn von Tele 5 diesen Erfolg. Bollywood war für RTL II aber in der Tat ein Treffer, ein doppelter sogar, weil es Hollywood-Quoten zu Bollywood-Preisen gab. Das war eine kluge Entscheidung, die für eine gewisse Zeit auch funktioniert hat. RTL II hat ja immer wieder neue Genres nach Deutschland geholt und so die Programmvielfalt in Deutschland bereichert. Neben Bollywood wäre da Anime am Nachmittag zu erwähnen. Kein anderer Sender hat diesem Kult mal so eine Sichtbarkeit gegeben. Aber alles hat seine Zeit.

2008 „Dexter“ und „Californication“ starten bei RTL II. Mit „True Blood“, „The Walking Dead“ und „Game of Thrones“ folgen in den nächsten Jahren weitere starke Serienmarken.

Liest man die Namen der Serien, die RTL II im Programm hat, klingt das eigentlich ganz hochkarätig. Und trotzdem wurde RTL II nie als Seriensender wahrgenommen.

Vielleicht liegt das auch daran, dass es meist Serien mit kürzeren Staffeln waren oder sie als Event programmiert wurden, so dass diese Marken nicht das ganze Jahr über mit RTL II assoziiert wurden. Aber US-Fiction gehört zur DNA des Senders. Über „24“ haben wir schon gesprochen und dann all die Serien, die Sie gerade genannt haben! Mancher wundert sich, warum die gerade bei uns gelandet sind. Die Antwort ist immer die gleiche: Die anderen haben sich nicht getraut. Alle genannten Serien außer „24“ sind übrigens im US-Pay-TV gelaufen: spitz, speziell und preisgekrönt. Aber RTL II war auch über viele Jahre die Heimat von Science-Fiction wie „Stargate“, „Heroes“ oder „Battlestar Galactica“.

2010: Mit dem Investigativ-Format „Tatort Internet“ hat RTL II für viel Aufsehen gesorgt und die Frage aufgeworfen: Wie weit darf man, wenn es auch für eine gute Sache ist, gehen?

Die Frage würde ich gerne weiterreichen: Wie weit muss oder sollte ein Sender, der immer Grenzen ausgetestet hat, heute noch gehen. Ist Tabubruch ein Kriterium für Programm bei RTL II?

Wir versuchen nicht strategisch Tabus zu brechen. Aber wir nehmen uns gerne Themenfeldern an, bei denen andere lieber wegschauen. Zwei solcher Themen gehen in diesem Jahr bei uns auf Sendung: Das eine ist Mobbing an Schulen, das andere der Tod. Natürlich gab es zu letzterem auch schon eine Themenwoche in der ARD und immer wieder mal Dokumentationen. Aber dass ein Privatsender sich zur Primetime dem Thema Tod ernsthaft und sehr emotional nähert, gab es so noch nicht. Wir dokumentieren unter anderem die Arbeit der Sterbebegleiterin Myriam von M, die Sterbenden letzte Wünsche erfüllt. Das ist natürlich ein sehr sensibles Thema. Aber wenn wir sagen, wir sind der Reality-Sender Nr.1, dann müssen wir die Realität des Lebens auch in allen Facetten abbilden und dürfen uns nicht vor irgendetwas drücken.

Berlin - Tag & Nacht© RTL II

2011: Mit der anfänglichen Irreführung, dass das alles echt sei, hat RTL II „Berlin - Tag & Nacht“ eingeführt und am Vorabend letztich ein Genre neu etabliert. Im gleichen Jahr sind auch „Die Geissens“ bei RTL II gestartet.

Sie sprachen vorhin schon kurz von „Berlin - Tag & Nacht“. Aus Ihrer Sicht als ein Gamechanger?

Daily Soaps sind ein sehr formalisiertes Genre, in dem zügig und diszipliniert beinahe industriell produziert werden muss. „Berlin – Tag & Nacht“ hat hier mit Laiendarstellern und ohne klassische Drehbücher eine ganz neue Authentizität eingeführt. Ein Game Changer war ganz sicher auch die tiefe Integration von Social Media. Als Wettbewerber hatte ich Respekt vor der kühnen Idee, dachte aber wie die allermeisten, dass das eigentlich nicht klappen kann auf Dauer. Es hat ja auch einige Wochen gedauert bis es zum Erfolg wurde. Sensationell, dass RTL II damals durchgehalten hat. Der ganze Markt hat die Erschütterung gemerkt, weil es am Vorabend vielen Marktteilnehmern zuvor sicher geglaubte Marktanteile geraubt hat. Und wie unique dieses Genre ist, zeigt ja die Tatsache, dass die Formate von Filmpool inzwischen in zahlreiche Länder verkauft wurden.

Personality-Dokusoaps wie z.B. mit den „Geissens“ waren in den vergangenen Jahren auch immer ein fester Bestandteil des Programms. Es wirkt aber als wenn die Zeit vorbei wäre…

Das sehe ich anders, wir halten an der Programmfarbe fest. Die Geissens, die Wollnys, die Reimanns, Daniela Katzenberger und die Lombardis... RTL II hat diesen spannenden Charakteren eigene Sendungen gegeben. Manche Protagonisten funktionieren beim Publikum länger, andere kürzer. Immer wieder suchen wir auch neue. Aber um es mal festzuhalten: Acht Jahre mit den Geissens oder den Wollnys, das allein ist schon einzigartig. Und es geht weiter! Aber selbstverständlich ist man auch abhängig vom Lebensweg der Familien.

Das dürfte einige Nerven kosten, wenn das Schicksal von geplantem oder schon produziertem Programm von den Eskapaden und Skandalen der Prominenten u.U. auch beeinträchtigt wird.

(lacht) Aber gerade dann mögen wir sie doch – umso mehr, wenn sie Entertainment produzieren.

Andreas Bartl© Magdalena Possert

RTL II-Geschäftsführer Andreas Bartl: Selbst seit mehr als 25 Jahren in der Branche

2016: Mit "Gottlos - Warum Menschen töten" hat RTL II nach vielen Jahren mal wieder eine fiktionale Produktion im Programm. Doch hier wie auch bei "Neandertaler" hat es nicht funktioniert.

Inzwischen nennt sich RTL II selbst ja „Realitysender Nr. 1“. Passt da Fiction überhaupt noch ins Programm? Lohnt es sich für RTL II, an dem Genre festzuhalten?

Da muss ich etwas klarstellen: Wir sind der Reality-Sender Nr.1, weil wir von Montag bis Donnerstag das Genre in den unterschiedlichsten Spielarten zeigen, von „Kleine Helden ganz groß“ bis „Love Island“, und damit mehr Reality bieten als alle anderen großen Sender. Das ist eine klare Positionierung, die uns sehr hilft. Aber am Wochenende bleiben wir sehr Fiction-orientiert, US-Fiction zugegebenermaßen.

Genau, wie sieht es denn mit der deutschen Fiction aus?

Wir haben das ausprobiert und festgestellt: Sobald deutsche Fiction auf RTL II vergleichbar wird mit dem Angebot der anderen großen Sender, verlieren wir. Wir erreichen nicht die Zuschauer, die Vergleichbares bei den anderen Sendern schauen, und unser eigenes Publikum ist eher irritiert von konventioneller deutscher Fiction. Wir verfolgen jetzt die Strategie, dass wir das Publikum unserer Vorabendserien in die Primetime holen. Zweimal ist uns das schon gelungen, siehe „Meike & Marcel“. Jetzt gibt es neue Ideen für „Young Fiction“, also einer Herangehensweise an fiktionales Erzählen, die sich an „Berlin - Tag & Nacht“ oder „Köln 50667“ anlehnt. Das dürfte näher beim RTL II-Publikum sein. Und über „Schwestern“ um 17 Uhr hinaus könnte ich mir auch mal eine Seasonal Soap vorstellen.

Also quasi wie früher die klassischen Telenovelas mit klar definiertem Ende?

Genau so.

2017: Im vergangenen Jahr hat RTL II mit „Naked Attraction“ nach vielen Jahren wieder ein neues Format ins Programm genommen, das mit nackter Haut Schlagzeilen gemacht hat.

Ganz ohne nackte Tatsachen und Erotik geht es also auch heute nicht bei RTL II?

Die Erotik gehört zu RTL II, auch wenn es in diesem Fall eher um die Selbstverständlichkeit von Nacktheit geht. Streng genommen ist es das unerotischste Format im deutschen Fernsehen. Es geht ja nicht um Sex. Die Kollegen von Tower Productions, eine BBC-Tochter, kamen mit dem internationalen Format auf uns zu. Sie sind davon ausgegangen: Wenn das in Deutschland jemand macht, dann RTL II. Und da hatten sie Recht. Da sahen wir uns quasi in der Verpflichtung: RTL II – zeig mir mehr (lacht). „Naked Attraction“ ist ein großer Erfolg für uns, auch digital. Die Folge mit Cathy Lugner hatte online mehr als 500.000 Abrufe.

Herr Bartl, herzlichen Dank für das Gespräch.