Aber welche Motivation steckt denn aus Ihrer Sicht hinter dieser Zahlenwut?

Vielleicht der Wunsch, als besonders fachkundig zu gelten. Aber das kommt kaum mal rüber. Ich wünsche mir da den Mut, das Live-Erlebnis plastisch zu machen. Ein guter Kommentator muss engagiert, kompetent und emotional sein, aber auch so kritisch, dass er sein Temperament zügelt, sobald es der Wettkampf nicht wert ist.

Dummerweise würde das bedeuten, dass man im Milliardengeschäft Profisport sein teuer bezahltes Produkt schlechtredet…

In der Tat, das ist ein echtes Problem. Ich war früher ja genauso gefährdet, in die eine oder die andere Richtung zu überspannen. Trotzdem denke ich, dass man zwar auch zu euphorisch sein kann, aber zu kritisch, geht den Zuschauern mehr auf die Nerven.

Parteilichkeit ist also erlaubt?

In der Bundesliga auf keinen Fall, und auch bei einem Länderspiel sollte die Bewertung sachlich bleiben. Trotzdem darf und soll man seine Freude über ein gutes Spiel der eigenen Mannschaft zeigen. Wichtig ist, dass die Gratwanderung zwischen eigener Zuneigung und objektiver Einschätzung gelingt.

Ist Ihnen diese Objektivität je komplett flöten gegangen?

Ja, aber es ist dann meist gelungen, mir innerlich auf die Zunge zu beißen. Beim WM-Finale in Italien 1990 habe ich 90 Minuten lang gedacht, wenn die Argentinier, die meist nur durch Fouls aufgefallen sind, jetzt durch irgend so einen Glückstreffer gewinnen, beiß ich mir, pardon, in den Arsch. Aus Angst vor solcher Ungerechtigkeit macht man das Spiel vielleicht hier und da etwas besser, als es tatsächlich ist, das hat es gewiss gegeben. Aber auch als Reporter fiebert man mit, ist doch logisch.

Hören Sie sich manchmal alte Rubenbauer-Kommentare an?

Höchstens zufällig.

Und sagen Sie dann tendenziell, gut gemacht oder um Gottes Willen?

Teils, teils. Wie jeder Mensch, der sich in früherer Vergangenheit sieht. Aber selbst, wenn etwas misslungen war: Der Zuschauer verzeiht dir einiges, sofern du mit Herz, Hirn, Sachverstand dabei warst.

Wie lautet da denn der Ratschlag des alten Hasen an junge Hüpfer, objektive Euphorie nicht in kritikloses Hochjubeln abgleiten zu lassen?

Genau über dieses Abgleiten nicht nachzudenken, also freien Lauf lassen. Je mehr Erfahrung man gerade im Alter hat, desto natürlicher klingt es dann.

Kann man sich nach 50 Jahren intensiver Sportbeschäftigung eigentlich einfach vor den Fernseher setzen und das Ereignis genießen oder beginnt man da automatisch Inszenierung, Technik, Kollegen zu bewerten?

In keiner Weise, denn erstens weiß ich, wie schwer der Job für alle ist, und finde zweitens, dass ihn die meisten wirklich gut machen.

Gibt es jemanden von den jüngeren, den Sie besonders wertschätzen?

Natürlich, etliche. Einige davon habe ich ja selbst als Coach geschult, aber ich werde den Teufel tun, einzelne herauszuheben.

Sie selbst erhalten in ein paar Stunden den Sportjournalistenpreis fürs Lebenswerk. Fühlt man sich da wirklich geehrt oder auch ein wenig beerdigt?

Ich fühle mich durchaus geehrt, aber mein großartiger Kollege Harry Valérien hat mal zu mir gesagt: "Bursch, wennst Preise fürs Lebenswerk kriegst, weißt du, jetzt geht’s nimmer lang." Da fragst du dich schon: nutzen sie da nur die Chance, bevor du geistig und körperlich gebrechlich wirst, oder meinen die das ernst? Andererseits ist so ein Preis auch Anlass, diese 40 Jahre in dem Beruf mal Revue passieren zu lassen. Die meisten davon fand ich ja schon faszinierend und viele Momente unvergesslich.

Zum Beispiel?

Ach, da gab es so viele. Als ich den Abfahrer Franz Klammer mal heulend in der Wachshütte getroffen habe oder erlebt, wie aggressiv, aufbrausend, jähzornig Franz Beckenbauer bei seiner ersten WM als Trainer 1986 zu Journalisten war und wie gelassen, umgänglich, nett vier Jahre später beim Sieg in Italien. Das bleibt ebenso haften wie die wunderbaren Winterspiele von Lillehammer 1994, als die Olympische Bewegung zum vielleicht letzten Mal für Sportler, Publikum und Journalisten ganz bei sich selbst war.

Haben Sie Hoffnung, dass sich das nochmals wiederholen kann?

Ich bin da eher skeptisch.