Herr Thorne, innerhalb weniger Monate haben Sie mit der HBO/BBC-Koproduktion "His Dark Materials", dem Channel-4-Sozialdrama "The Accident" und jetzt "The Eddy" drei bemerkenswerte Serien vorgelegt. Sind Sie ein Schnellschreiber?

Nein, das ist eher Zufall. Jeder Drehbuchautor kennt das: Plötzlich kommt deine Arbeit gehäuft raus. Dafür hat man vorher lange Phasen der Stille, in denen man schreibt und schreibt, aber nichts gedreht wird. Wie lange ich an "The Eddy" gearbeitet habe, kann ich daran festmachen, dass ich während unserer anfänglichen Gespräche einen Rohschnitt von Damien Chazelles "Whiplash" sah – einige Monate bevor der Film 2014 offiziell herauskam. "The Accident" kam recht schnell zustande, "His Dark Materials" dauerte auch etliche Jahre.

Das sind sehr unterschiedliche Genres und Erzählweisen. Haben Sie als Autor trotzdem eine einheitliche Arbeitsweise?

Ich versuche, den Prozess des Schreibens jedes Mal anders und individuell zu gestalten. Während der Arbeit an "The Eddy" habe ich mir immer erst ein paar Songs von Glen und Randy (Glen Ballard und Randy Kerber, die Komponisten der Serie, Anm. d Red.) angehört, bevor ich mich an den Computer gesetzt und geschrieben habe. Ich hörte sie und hatte ihren Geist dann sozusagen in meinen Fingern. Bei "His Dark Materials" habe ich immer wieder nachgelesen, was Philip (Philip Pullman, der Autor der Romanvorlage, Anm. d. Red.) geschrieben hatte, um sicherzugehen, dass wir seiner Vorlage treu bleiben. Bei "The Accident" gab es nichts von alledem, dafür aber ein enormes Ausmaß an Recherche. Diese Abwechslung tut sehr gut. Sie bewahrt einen davor, in eine Art immergleiche Schreibroutine zu verfallen.

Noch ein Unterschied ist ja, dass Sie mal alleiniger Autor sind, mal mit einem Writers' Room arbeiten.

Genau. Im Fall von "The Eddy" war es eine wirklich großartige Kollaboration. Wir hatten uns von Anfang an vorgenommen, die Geschichte mit einem möglichst authentischen Blick auf Paris zu erzählen. Das hätte ich allein gar nicht leisten können. Wir brauchten einen afroamerikanischen Autor im Team, eine schwarze britische Autorin, einen französisch-marokkanischen Autor. Kurzum: Wir brauchten diverse Stimmen im Writers' Room, damit die Serie vielfältige Perspektiven reflektiert.

Vielfach liest man jetzt verkürzt "eine Serie von Damien Chazelle", auch wenn vier Regisseure jeweils zwei Episoden gedreht haben. Ganz zu schweigen davon, dass Sie alle acht Bücher geschrieben haben, darunter drei mit Co-Autoren. Ärgert Sie das?

Ach was. Ist doch verständlich, dass man sich mit einem Oscar-Preisträger schmückt. Auch wenn an "La La Land" natürlich noch kein Gedanke war, als wir anfingen, "The Eddy" zu entwickeln. Glen Ballard ging mit der Ursprungsidee zu Alan Poul, der holte dann Damien an Bord und zusammen schrieben sie ein zweiseitiges Konzept auf. Das gaben sie mir und ich machte meinen Pitch auf Basis dieser zwei Seiten. Davon ausgehend, haben wir gemeinsam die Welt, die Figuren und die Geschichte aufgebaut. Glen und Alan hatten damals ja schon eine unglaubliche Erfolgsbilanz – Alan mit "Six Feet Under", "The Newsroom" oder "Black Rain", Glen als Songwriter für Michael Jackson, Aerosmith oder Katy Perry. Damien war noch ziemlich unbekannt, aber als ich "Whiplash" sah, wusste ich, das war einer der besten Filme, die ich jemals gesehen hatte.

"Ich bin kein Anhänger des Labels 'Showrunner'. Man unterstellt, eine einzelne Person könne die Stimme einer ganzen Serie sein und alles bestimmen"

Jack Thorne

 

Und die Zusammenarbeit blieb bis zum Schluss so harmonisch?

Absolut. Das war ein total enger, sehr gut abgestimmter Arbeitsprozess – so liebe ich das. Wissen Sie, ich bin kein Anhänger des Labels 'Showrunner'. Wenn man von einem Showrunner spricht, richtet man meines Erachtens Schaden an, weil man unterstellt, eine einzelne Person könne die Stimme einer ganzen Serie sein und alles bestimmen. Wir haben uns diese Verantwortung geteilt. Weil Improvisation im Jazz und damit auch in unserer Serie so elementar ist, brauchten wir einen möglichst durchlässigen Storytelling-Fluss zwischen allen Beteiligten. Improvisation am Set ist der beste Weg, um von den Schauspielern Wahrhaftigkeit einzufangen. Da darf man als Autor nicht empfindlich sein, wenn mal spontan ein paar Zeilen verändert werden. Schon als ich die Muster vom Dreh bekam, merkte ich, dass "The Eddy" voll von Wahrhaftigkeit ist. So etwas passiert nur, wenn alle gemeinsam Führungsverantwortung wahrnehmen. Ich glaube, in dieser Hinsicht haben wir die perfekte Verschmelzung hinbekommen.

Paris ist nicht nur Schauplatz, sondern wie ein weiterer Hauptdarsteller der Serie. Welchen Stellenwert hat die Stadt für Sie als Briten?

Paris hat mich schon immer fasziniert. Das erste, was ich damals zu Alan, Glen und Damien sagte, war: Ich möchte eine Geschichte über die Périphérique (die ringförmig um Paris gebaute Stadtautobahn, Anm. d. Red.) erzählen. Darüber, wie das Leben innerhalb und außerhalb der Périphérique aussieht und wie moderne Städte funktionieren. Mein Vater ist Stadtplaner, daher hat mich urbane Infrastruktur schon früh interessiert. Ich kenne mich in Deutschland leider nicht gut genug aus, um einen Vergleich ziehen zu können. Aber wenn man London oder New York anschaut, dann muss man feststellen, dass die Diversität innerhalb der Stadt verlorengegangen ist. Gebäude werden saniert und modernisiert, Altbewohner wegen steigender Kosten immer weiter aus dem Stadtkern getrieben. Paris ist in dieser Entwicklung viel weiter, weil es die Périphérique schon seit Mitte des vorigen Jahrhunderts gibt. Seither pendeln Menschen zum Arbeiten in die Stadt. Einige dieser Außenbezirke sind wunderschön wie etwa die Gegend, in der unsere Serienfiguren Farid und Amira leben. Sollte ich jemals nach Paris gehen, würde ich dorthin ziehen. Gleichzeitig gibt es aber viele andere Ecken, die völlig verödet sind, wo es kaum noch Geschäfte und kein Gefühl von Gemeinschaft gibt. Dass wir Menschen so behandeln, ist schädlich für die Gesellschaft. Wenn wir dem nicht entgegenwirken, wird uns dieses Schicksal früher oder später selbst ereilen.

Welche Rolle spielt der titelgebende Jazzclub für diese Idee der Gentrifizierung? Ist er in Ihren Augen ein Teil der schützenswerten alten Welt oder steht er auch für Modernität?

The Eddy© Netflix/Lou Faulon
Jazz bedeutet für mich Verschmelzung. Er sucht stets nach neuen Ideen und verbindet insofern das Alte mit dem Neuen. Ich habe es als einmalige Chance empfunden, anhand eines Jazzclubs dieses große gesellschaftliche Thema zu erzählen. Hinzu kommt: Ich war drei Jahre mit einem Bassisten zusammen. Mich begeistert die Vorstellung, dass ein Musiker sich schon als Kind von allen in Frage kommenden Instrumenten ausgerechnet den Kontrabass aussucht, der viel größer ist als er selbst und den er kaum tragen kann. Überhaupt haben Jazzmusiker etwas an sich, das sie für diese Art von Erzählung geradezu perfekt macht: Sie sind stur und klassenlos. Sie streben nach Exzellenz, obwohl diese Exzellenz nicht lukrativ ist. Man wird nicht allzu viele reiche Jazzmusiker finden. In einer frühen Phase meiner Recherchen habe ich mit vielen Jazzmusikern gesprochen – unfassbar gute Instrumentalisten, die von der Hand in den Mund leben.

Können Sie sich als Autor damit identifizieren? Durch "Harry Potter and the Cursed Child", "The Last Panthers" oder "His Dark Materials" sind Sie heute weltberühmt und mutmaßlich auch reich, aber das war ja nicht immer so.

Stimmt, Schreiben kann auf Dauer durchaus lukrativ sein. (lacht) Aber ganz im Ernst: Ich selbst musste irgendwann aus London wegziehen in eine kleinere Stadt namens Luton, 50 Kilometer nördlich, weil ich mir die Miete nicht mehr leisten konnte von dem Geld, das ich mit meinen Drehbüchern und Theaterstücken verdiente. Ich weiß also genau, wovon ich spreche. Wobei Jazz bestimmt noch härter ist. Als Autor hat man eher die Chance, eine Erfolgsleiter zu erklimmen.

Herr Thorne, herzlichen Dank für das Gespräch.