Herr Polle, es ist nicht der erste "Tatort", den Sie machen. Spüren Sie beim 50-jährigen Jubiläum so etwas wie eine besondere Verantwortung?

Nur bedingt. Als der Anruf von WDR und BR kam, ob wir uns vorstellen könnten, den Jubiläums-"Tatort" als Doppelfolge mit den Teams aus Dortmund und München zu machen, hielt ich es in erster Linie für ein großes Geschenk. Natürlich ist es ein Projekt, das eine erhöhte Aufmerksamkeit mit sich bringt, aber Angst habe ich deshalb nicht verspürt. Im Gegenteil: die Idee, welche wir zusammen mit den Redakteuren Stephanie Heckner und Frank Tönsmann erarbeitet haben, nämlich eine Geschichte aus einer Hand mit zwei Regisseuren und unterschiedlichen Handschriften umzusetzen, war von Beginn an eine inhaltlich spannende Herausforderung.

Wie passen die beiden Ermittler-Teams denn überhaupt zusammen?

Wahrscheinlich passen sie weniger gut zusammen, was für eine solche Geschichte natürlich besser ist. Sie bringen jeweils eine andere Mentalität mit, auf die Fälle und vielleicht auch auf das Leben zu schauen. Das hat für den Autor Bernd Lange und uns alle den Reiz ausgemacht. Uns war es wichtig, eine Geschichte zu finden, die erzählenswert und gleichzeitig dazu geeignet ist, die unterschiedlichen Charaktere der Kommissare inklusive ihrer Eigenheiten genau zu beleuchten. 

Was genau muss die Geschichte können, damit sie über beide Abende hinweg trägt?

Es muss eine große Geschichte sein, die sich aber im Kleinen anhand von spannenden Figuren und Konflikten emotional erzählen lässt. Das ist aus meiner Sicht bei "In der Familie" in der Welt der kalabrische Mafia 'Ndrangheta der Fall. Die 'Ndrangheta macht ungefähr so viel Umsatz wie ein mittlerer Dax-Konzern, tut dies aber vor allem im Verborgenen. Bernds Ansatz war die Frage, was dies für den kleinen Mann bzw. eine einzelne Familie in diesem System bedeutet. Sie sind nur ein Rad in einem großen Getriebe. Gleichzeitig ist die Frage, wie Polizistinnen und Polzisten damit umgehen, die diesem System teilweise machtlos gegenüberstehen. Es treibt sie zu Fehlern, das erzählen wir. Da die 'Ndrangheta dem Vernehmen nach sowohl in Nordrhein-Westfalen als auch in Bayern eine große Rolle spielt, waren wir schnell überzeugt, dass dies eine passende Geschichte für das Jubiläum sein könnte.

"Corona war eine unglaubliche Herausforderung und ein riesiger Kraftakt."

Regie führen Pia Strietmann und Dominik Graf, also auch zwei unterschiedliche Generationen. Wie macht sich das aus Ihrer Sicht bemerkbar?

Als ich zu dem Projekt dazukam, war Dominik bereits an Bord. Darüber hinaus gab es aber noch keine weiteren inhaltlichen oder personellen Festlegungen. Dominik fand ich als Regisseur schon lange extrem spannend, Pia kenne ich bereits seit unserer gemeinsamen Zeit an der Filmhochschule. Wir arbeiteten zu der Zeit gemeinsam an der "Tatort-Episode "Unklare Lage" für den BR, die Geschichte eines Amoklaufs in München. Gemeinsam mit den Redakteuren ging es uns der Auswahl der Kreativen jedoch weder um die Generation noch um das Geschlecht. Es ging vor allem darum, zwei unterschiedliche Blickwinkel auf Bernds Geschichte zu ermöglichen, indem man beiden Regisseuren größtmögliche Freiheiten gibt. Wir wollten so die künstlerische Bandbreite verdeutlichen, die der "Tatort" seit 50 Jahren im deutschen Fernsehen zeigen kann. 

In der Familie © WDR/BR/Hagen Keller Ivo Batic (Miroslav Nemec), Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl), Regisseurin Pia Streitmann, Peter Faber (Jörg Hartmann) und Produzent Michael Polle

Durch Corona mussten die Dreharbeiten zeitweise unterbrochen werden. Was hat das wiederum mit dem Film gemacht?

Corona war eine unglaubliche Herausforderung und ein riesiger Kraftakt, den wir nur dank eines herausragenden Teams vor Ort bewältigen konnten. Wir hatten zunächst eine krankheitsbedingte Unterbrechung, die nichts mit Corona zu tun hatte,  danach wurden uns wegen der Pandemie die Drehgenehmigungen in München entzogen. Dadurch war lange offen, wann wir wieder in den Dreh gehen können – und vor allem wie. Wie alle in der Branche haben wir zu diesem Zeitpunkt Experten konsultiert, um gemeinsam mit ihnen Hygienekonzepte zu erstellen. Dazu kam der Druck, den Film rechtzeitig zum "Tatort"-Jubiläum fertigzustellen. Wir mussten deshalb die Vorbereitung zur Wiederaufnahme lostreten, obwohl wir zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht wussten, ob die Drehgenehmigungen überhaupt wieder erteilt werden. Zum Glück hat alles geklappt und der Jubiläumstermin konnte gehalten werden. 

Hatten Sie zwischendurch die Sorge, nicht rechtzeitig fertig zu werden?

X Filme war als Unternehmen mit drei Projekten vom Lockdown betroffen. Wir haben relativ früh damit begonnen, Maßnahmen zu treffen, wie wir wieder ans Set kommen können. Rückblickend betrachtet wurden die ersten drei, vier Wochen dazu genutzt, um den Status Quo abzustecken – also etwa die Beschäftigungsverhältnisse zu klären. Danach begannen die Überlegungen, unter welchen Bedingungen es überhaupt weitergehen kann. In dieser Zeit sind wir eng zusammengestanden, wenn auch nur in Zoom-Konferenzen. Am Ende wurde es eine Punktlandung. 

Sie testen in ihren Tatortproduktionen wie im erwähnten "Unklare Lage" immer wieder Grenzen aus? Was ist die größte Grenze, an der Sie bisher geruckelt haben?

Wir versuchen immer wieder, innerhalb dieses Genres, erzählerisch an Grenzen zu gehen. Bei diesem Fall war es für mich spannend, wie wir mit der Thematik der Hauptfiguren umgehen, da ein Wechsel zwischen den beiden Filmen stattfindet. Dazu kommt der Ansatz, den Mafia-Aspekt breiter zu erzählen als es für gewöhnlich an einem Abend möglich ist. Grundsätzlich geht es mir beim "Tatort" darum, immer wieder zu überraschen und nicht ausgetretene Wege zu gehen. Jeden dieser Filme sehe ich daher als Herausforderung, nicht zu langweilen. 

"Ich empfinde eine Limitierung nicht immer nur als Problem."

Geht das beim "Tatort" möglicherweise einfacher als bei anderen Filmen im deutschen Fernsehen?

Es fällt mir schwer, den "Tatort" mit anderen Krimiformaten zu vergleichen, da jedes Projekt seine Besonderheiten hat. Ich selbst habe im Krimigenre  schon eine große Bandbreite miterleben dürfen – von der Producer-Tätigkeit bei "KDD – Kriminaldauerdienst" bis hin zu "Babylon Berlin". Wir versuchen im Team immer, nicht nur den Krimi zu bedienen, sondern etwas Besonderes herauszukitzeln. Generell ist mein Eindruck, dass heute immer mehr möglich ist, weil die Zuschauer im besten Sinne anspruchsvoller geworden sind. Dadurch gibt es sehr spannende Möglichkeiten des Erzählens – nicht nur im Krimigenre. 

Nur die Begrenzung auf 90 oder 45 Minuten dürfte Sie stören, oder? 

Nein, ganz im Gegenteil, weil ich eine Limitierung nicht immer nur als Problem empfinde. Jedes Projekt hat einen Rahmen, in dem wir erzählen. Nehmen Sie "Die verlorene Tochter", wo wir in sechs Mal 45 Minuten erzählt haben und sehr spielerisch damit umgegangen sind, indem jede Folge in den ersten Minuten mit einer Rückblende auf die Zeit des Verschwindens der Hauptfigur vor zehn Jahren begann – aus unterschiedlichen Perspektiven. Natürlich würde man sich hier und da mal eine Minute mehr wünschen. Aber das ist für mich kein Problem, sondern in erster Linie eine inhaltliche Herausforderung. 

Herr Polle, vielen Dank für das Gespräch.

Der zweiteilige "Tatort: In der Familie" läuft an diesem und dem kommenden Sonntag jeweils um 20:15 Uhr im Ersten.