Herr Conrad, mit Ihrem ARD-Dreiteiler "Das Geheimnis des Totenwaldes" packen Sie eine unglaubliche, aber wahre Geschichte an: Die Schwester des damaligen Hamburger LKA-Direktors Wolfgang Sielaff verschwand 1989 spurlos. Wegen Behördenversagens wurde der Fall erst 28 Jahre später aufgeklärt, als der mittlerweile pensionierte Sielaff nach privater Recherche den Zusammenhang mit einem Serienmord belegen konnte. Was kann die Fiktion einem solchen Real-Life-Drama noch hinzufügen?

Wir haben uns von dem realen Fall inspirieren lassen und auch eng mit dem echten Wolfgang Sielaff zusammengearbeitet, aber es ging uns nicht um eine Dokumentation. Wir wollen authentisch erzählen, aber erheben keinen Anspruch auf eine Wiedergabe der Realität. Mit den fiktionalisierten Figuren wollen wir den emotionalen Qualen, die Opfer und Angehörige erlitten haben, einen künstlerischen Ausdruck verleihen. Im Zentrum steht für mich die Machtlosigkeit des Einzelnen gegenüber der Verwaltung, wenn sogar ein gestandener LKA-Direktor derart vor die Wand läuft. Eine Doku würde den individuellen Fall erörtern, wir extrapolieren daraus einen emotionalen Blickwinkel auf das Ausgeliefertsein. Die Fassade einer typischen deutschen Behörde kann so aufgebaut sein, dass Normalbürger gar nicht so schnell merken, wie sie ins Leere laufen.

Es fällt auf, dass Sie als Produzent immer wieder authentische, komplexe, oft abgründige Polizei- und Kriminalstoffe mit einer Insider-Perspektive erzählen – von "Berlin – Abschnitt 40" über "GSG 9" bis zu "Im Angesicht des Verbrechens" oder "Das Programm". Sie scheinen da einen besonderen Zugang zu haben.

Als ich 2005 für meine Sat.1-Miniserie "Blackout – Die Erinnerung ist tödlich" Fachberatung brauchte, lernte ich den damaligen Hamburger LKA-Chef Reinhard Chedor, Sielaffs Nachfolger, kennen. Der Kontakt kam über den Bruder von Oliver Hirschbiegel zustande, der Polizeireporter bei der "Hamburger Morgenpost" war. Seitdem hat Chedor mich bei allen Projekten maßgeblich beraten und mir weitere herausragende Experten wie die Polizeipsychologin Claudia Brockmann vorgestellt. Über die Jahre sind persönliche Freundschaften sowie ein enges Vertrauensverhältnis entstanden. So bin ich 2016 auch Wolfgang Sielaff begegnet, als eine Kerntruppe um Chedor und Brockmann ihm dabei half, die Flut der alten Ermittlungsakten zu durchforsten. Wenig später schaltete er Journalisten von "Bild", "Stern" und "Zeit" ein, um Druck auf die niedersächsischen Behörden auszuüben.

Und Sie hatten sofort eine fiktionale Version vor Augen?

Klar, ich war fasziniert, zumal der Zusammenhang zu den berüchtigten Göhrde-Morden damals schon greifbar auf dem Tisch lag. Ich weiß noch, dass ich nach einem NDR-Termin am Hamburger Flughafen saß und auf meinen Heimflug wartete, als ich die Geschichte in der "Zeit" las. Ich schickte einen Screenshot an NDR-Fictionchef Christian Granderath, der mir am nächsten Morgen um 6:45 Uhr simste, ob wir uns sofort treffen könnten. Also bin ich schnell wieder nach Hamburg und habe Sielaff und Chedor zum NDR mitgenommen. Innerhalb kürzester Zeit hatte ich das Commitment von NDR und Degeto. Wenn die ARD etwas wirklich will, dann kann sie sehr zupackend sein.

Ohne Ihre engen Kontakte wären Sie nicht so früh so nah dran gewesen. Wie arbeitet man denn als Fiction-Produzent mit solchen Kriminalisten zusammen?

Das Geheimnis des Totenwaldes © NDR/ConradFilm/Christiane Pausch Im "Geheimnis des Totenwaldes" spielt Matthias Brandt die fiktive Version von Wolfang Sielaff
Nach all den Jahren wissen sie, dass sie mir vertrauen können und bei mir keine Halligalli-Produktionen befürchten müssen. Natürlich dürfen sie mir nicht von konkreten echten Fällen berichten, aber sie können archetypische Geschichten schildern. Man spürt dann die Muster, die dahinterliegen und möglicherweise eine fiktionale Bearbeitung inspirieren. Solche Menschen, die im Sicherheitsapparat tätig sind oder waren, haben eine ganz eigene Denkweise. Das merkt man, wenn man sie über einen längeren Zeitraum begleitet. Die Welt, in der sie unterwegs sind, tickt völlig anders als unsere, was vor allem an der permanenten Verantwortung und Fallhöhe liegt. Da kann ich stundenlang zuhören und sauge alles auf wie ein Schwamm. Ich finde diese authentischen Quellen tausendmal spannender als abstrakte Geschichten, die Drehbuchautoren sich am Schreibtisch ausdenken. Man kann das auch nicht dadurch wettmachen, dass ein Fachberater für 200 Euro ein fertiges Drehbuch gegenliest. 

"Das Geheimnis des Totenwaldes" wird einerseits als "Event-Dreiteiler" im Ersten vermarktet, ist aber auch schon seit einer Woche vor der TV-Ausstrahlung als sechsteilige Miniserie in der ARD-Mediathek abrufbar. Wie findet der einstige RTL-Programmdirektor und Meister des linearen Scheduling eine solche Doppelstrategie? Ist da keine Kannibalisierung zu befürchten?

Das ist natürlich Sache der ARD, ich habe als Produzent nicht die Feinheiten der Auswertungsstrategie in der Hand. Grundsätzlich würde ich sagen: Wenn man ein echtes TV-Event kreieren will, wäre es sinnvoll, erst nach der linearen Ausstrahlung der letzten Folge alle Folgen zum Binge-Watching online zu stellen. Warum man es oft andersrum macht, erschließt sich mir persönlich nicht. Es würde doch auch niemand auf die Idee kommen, ein Fußballspiel live in der Mediathek zu zeigen und dann am Tag drauf noch einmal im linearen Fernsehen. Auch in Zeiten von "online first" sollte man ein paar grundlegende Fragen nicht aus dem Blick verlieren: Auf welchen Termin läuft eigentlich die Promotion zu? Wann genau besprechen Tageszeitungen oder Online-Medien eine neue Serie? Ich sehe die Gefahr, dass manche Einschaltimpulse am Ausstrahlungstag fehlen und die lineare Reichweite darunter stärker leidet, als es nötig wäre.

Gelten denn die alten Erfolgsrezepte in Sachen Programmplanung und -marketing überhaupt noch, mit denen Sie einst an der Seite von Helmut Thoma RTL groß gemacht haben? Oder muss man sich im Streaming- und On-Demand-Zeitalter völlig neuen Regeln unterwerfen und beispielsweise nonlineare Reichweite priorisieren?

Es geht mir gar nicht um den nostalgischen Blick zurück, denn natürlich haben die heutige Vielfalt und Schnelligkeit der Angebote eine ganz andere Dimension. Das macht es fürs einzelne Angebot weitaus schwieriger, beim Konsumenten durchzudringen. Was sich aber nicht wesentlich verändert hat: Man muss die psychologische Verfassung des Zuschauers kennen und auf sie eingehen, wenn man überhaupt eine Chance haben will, zu ihm durchzudringen. Das ist weitgehend unabhängig von der technischen Form, wie die Inhalte ins Wohnzimmer gelangen. Egal ob als TV-Sender oder Streaming-Plattform: Das Ziel muss immer sein, ins Relevant Set der Zuschauer zu kommen, das in der Regel aus fünf bis sechs Anbietern besteht. Wenn man sich die Marktentwicklung genauer anschaut, deutet alles darauf hin, dass das für Streamer genauso gilt. Etliche Zuschauer nehmen vielleicht ein bis zwei Streamer in ihr Relevant Set auf, dafür fallen ein bis zwei TV-Sender raus. Ich sehe aber kein Naturgesetz, dass Sender mit attraktivem Angebot dort keine Chance mehr hätten.

"Ich kenne sehr viele Kollegen, die momentan auf Teufel komm raus akquirieren, um ihre laufenden Kosten decken zu können"
Marc Conrad, geschäftsführender Gesellschafter der ConradFilm 

Was heißt das für Produzenten?

Als Produzenten müssen wir dringend weiterdenken, denn einem herkömmlichen Hit im linearen Fernsehen entspricht bei den Streamern ein "behavior-altering title" – so nennen die Amerikaner Serien oder Filme, die Menschen dazu bringen, ein Abo für eine Plattform abzuschließen, die sie bisher noch nicht abonniert hatten. Solche Programme setzen schon bei ihrer Entwicklung eine andere Vorgehensweise voraus, weil sie nicht unbedingt das Ziel haben, möglichst hohe Reichweiten zu generieren, sondern eben neue Subscriber zu gewinnen. Das erfordert von Anfang an einen engen Schulterschluss zwischen Produzent und Auftraggeber. Diese Zielsetzung dürfte auch hierzulande relevanter werden, falls die deutschen Streamer den Mut haben, sich für "behavior-altering titles" zu entscheiden – was sich für ihre Zukunft irgendwann noch als ausschlaggebend herausstellen kann. 

Als freier Kreativproduzent mit Bindung u.a. an die Bavaria Fiction waren Sie Vorreiter eines Trends, der den Markt zusehends in kleine Schnellboote und große Konglomerate segmentiert. Hat der Mittelstand im Zuge der Konsolidierung noch eine Chance?

Ich kenne sehr viele Kollegen, die momentan auf Teufel komm raus akquirieren, um ihre laufenden Kosten nach neun Monaten Corona-Pandemie decken zu können. Kreativ gesehen, ist es der Anfang vom Ende, wenn man nicht produziert, weil man für einen bestimmten Inhalt brennt, sondern weil man die Miete zahlen muss. Da bin ich heilfroh, dass ich keine große Struktur zu füttern habe. ConradFilm besteht aus mir und einer ausgelagerten Buchhalterin. Ich arbeite bei meinen TV-Projekten eng mit Maren Knieling als Produzentin bei der Bavaria Fiction zusammen, sie und ihr Team kümmern sich auch um alle Aspekte der physischen Herstellung. Für die Kollegen bei der Bavaria hat das den Vorteil, dass sie an zusätzliche attraktive Stoffe kommen, die sie mit ihrer vorhandenen Infrastruktur im Herstellungsbereich zuverlässig umsetzen können. Für mich hat das ganz viel mit Muße zur Kreativität zu tun. Ehrlich gesagt, könnte ich mir heute nicht mehr vorstellen, nochmal eine eigene Produktionsstruktur aufzubauen.

Herr Conrad, herzlichen Dank für das Gespräch.

"Das Geheimnis des Totenwaldes" läuft am 2., 5. und 9. Dezember jeweils um 20:15 Uhr im Ersten und steht als Sechsteiler in der ARD-Mediathek. Eine weitere Marc-Conrad-Produktion zeigt das ZDF am 17. Dezember um 20:15 Uhr: die Weihnachtskomödie "Alle Nadeln an der Tanne" mit Anna Loos und Marcus Mittermeier.