Vor dem Start der von Constantin Entertainment für Prime Video produzierten Dokumentation "Bild. Macht. Deutschland?" an diesem Freitag hatte DWDL.de Anfang Dezember die Gelegenheit, alle sieben Folgen der Produktion zu sehen, um mit "Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt über das ungewöhnliche Projekt zu sprechen. Das einstündige Interview wurde vergangene Woche Corona-bedingt per Videocall geführt, bei dem dann kurzfristig auch "Bild"-Videoreporterin Angelique Geray und "Bild am Sonntag"-Chefredakteurin Alexandra Würzbach zugeschaltet waren.
Jeder hat sein Bild von „Bild“. Frau Geray, das werden Sie bei Ihren Einsätzen als Videoreporterin vor Ort häufig genug spüren. Was erhoffen Sie sich von dieser Dokumentation?
Angelique Geray: Diese Dokumentation kann durch den Blick über die Schulter für mehr Transparenz sorgen. Es ist gut, wenn jeder die Gelegenheit bekommt, zu erfahren, wie Medien arbeiten. Wir haben nichts zu verstecken. Wir setzen uns schon so lange mit Reichsbürgern, Querdenkern und anderen auseinander, die mit zweifelhaften Quellen behaupten, sie wären die neuen Medien. Dem setzen wir Transparenz entgegen und helfen die Medienmarke Bild und unsere Arbeit zu verstehen.
War das Ihr Ansinnen einer monatelangen Begleitung der Redaktionsarbeit zuzustimmen, Herr Reichelt?
Julian Reichelt: Wir als Marke fordern von Politikern, Wirtschaftsbossen, Fußballvereinen und dem ganzen Land Transparenz ein. Diese Maßstäbe müssen auch für uns gelten. Bei der Frage „Erlauben wir diesen Zugang?“ hat mich die unglaubliche Polarisierung der vergangenen Jahre getrieben, einerseits in Social Media und in alternativen Medien, oft mit alternativen Fakten. Das ist eine dramatische Entwicklung, bei der es mir wichtig war, die Türen von „Bild“ aufzumachen und den Unterschied zu zeigen. Egal was man von der Marke „Bild“ halten mag: Wir gehören zum medialen Rückgrat dieses Landes, und die Menschen, für die wir diese Arbeit machen, haben das Recht zu sehen, was wir machen, wie wir es machen und wer es macht. Was dann mehr oder weniger zufällig hinzu kam, ist der Umstand, dass diese Doku nicht nur die Geschichte von „Bild“ erzählt, sondern eine Pandemie und die Geschichte eines ganzen Landes und darüber hinaus. Damit macht diese Doku auch politische Entscheidungsprozesse dieses Jahr transparent.
Produziert wurde die Doku von Constantin Entertainment, einem ungewöhnlichen Partner für eine journalistische Dokumentation. Wie kam es dazu?
Reichelt: Die Idee wurde schon länger und immer mal wieder diskutiert. Konkret wurde es dann, wenn ich mich richtig erinnere, weil mich Oliver Berben darauf ansprach und fragte, ob wir bereit wären, die Türen zur Marke „Bild“ zu öffnen, um zu zeigen, wie unsere Reporterinnen und Reporter arbeiten. Das war vor rund zwei Jahren. Es bedurfte dann der Rücksprache mit vielen Leuten hier im Haus und längerer Vorbereitung. Die Kollegen müssen ja auch bereit sein, das mitzugehen.
War es Voraussetzung, dass eine Produktionsfirma produziert, die keine eigene journalistische Agenda hat und in der Unterhaltung zuhause ist?
Reichelt: Nein, es gab keine Bedingungen. Oliver Berben hatte das vorgeschlagen. Es waren ja hauptsächlich zwei Personen, die uns über die Monate begleitet haben und ich hatte nicht das Gefühl, dass wir geschont worden wären.
Und wie viel bekommen wir als Publikum jetzt zu sehen bei „Bild. Macht. Deutschland?“?
Alexandra Würzbach: Viel, ich kann für mich sagen, dass ich an keiner Stelle persönliche Einwände hatte. Ich bin ja auch einmal mit Julian aneinandergeraten, aber mein Gott, so ist das halt. Die Doku soll zeigen, wie wir arbeiten. Ich als Journalistin möchte an jeder Geschichte so dicht wie möglich dran sein, dann soll es eine solche journalistische Dokumentation auch sein und alle Seiten zeigen. Daher würde ich auch von „Bild“ erwarten, dass wir uns nicht für irgendetwas schämen und es verstecken wollen.
Reichelt: Das ist der genau der Geist, der mir wichtig war. Wir setzen uns dem aus, was unsere eigenen Maßstäbe und Regeln sind, wenn wir mit Politik und Institutionen arbeiten. Aufgrund der Corona-Pandemie, die quasi mit Drehbeginn eintrat, habe ich entgegen vorheriger Absprachen dem Team auch Zugang zu meinem Büro gewährt und zwar nahezu durchgehend. Hier gab es nur die Zusage, dass private Themen meiner Mitarbeiter oder vertrauliche Aussagen von prominenten Gästen nicht genutzt werden.
"Ich würde auch von „Bild“ erwarten, dass wir uns nicht für irgendetwas schämen und es verstecken wollen."
"Bild am Sonntag"-Chefredakteurin Alexandra Würzbach
Die Doku zeigt einige Redaktionskonferenzen. Waren das ausgesuchte Termine? Wie liefen die Dreharbeiten konkret?
Reichelt: Der Konferenzraum war über Monate ausgestattet mit zahlreichen Kameras. Amazon hatte einen eigenen Regieraum gleich neben dem Konferenzraum. Die Kameras können auch mal ausgeschaltet gewesen sein, aber ich wusste nicht, wann sie laufen und wann sie aus sind. Wir sind während der gesamten Drehzeit immer davon ausgegangen, dass das, was wir dort besprechen, Teil der Dokumentation werden kann. Es war eben nicht so, dass wir von uns herbei geführte Momente kreiert haben, weil heute mal die Kamera dabei war.
Und das war kein Problem?
Reichelt: Das brauchte ein paar Tage, aber dann war allen klar: Wir sind, wie wir sind.
Bei einer dieser Redaktionskonferenzen reagieren Sie auf die Info, dass es sich bei der Rauchwolke über Berlin nur um eine brennende Baustellenmaschine handelt, mit einem enttäuschten „Schade“. Was glauben Sie, wie dieser Zynismus beim Publikum ankommt?
Reichelt: Das Publikum hat bei „Bild. Macht. Deutschland?“ die Gelegenheit, uns über 350 bis 400 Minuten zu verfolgen. Das gibt genug Kontext, um solche Momente einordnen zu können. Ich würde das auch nicht Zynismus nennen. Es gibt eine Form von schneller Schnoddrigkeit im Journalismus, die es nicht nur im Boulevard gibt. In allen Newsrooms werden Sie solche Momente erleben, die nur sonst nicht gefilmt werden. Das mag manchmal unpassend wirken auf Außenstehende, aber man spricht halt auch mal so unter Kollegen. Aber wenn wir uns über die Wirkung einer solchen Anmerkung Gedanken machen würden, hätte man so einer Doku erst gar nicht zustimmen dürfen.
Die Dokumentation verfolgt neben Redaktionskonferenzen auch Recherchen vor Ort, etwa in Bergamo auf dem Höhepunkt der Corona-Krise dort. Frau Geray, wie angemessen ist es, noch ein Team dabei zu haben, das die eigene Arbeit dokumentiert?
Geray: Genau darüber habe ich mir am Anfang auch sehr viele Gedanken gemacht, weil ich die Angst hatte, dass es auch zynisch wirken mag, wenn man in ein Land reist, das akut sehr betroffen ist vom Corona-Virus, und unser Anliegen - die Sorgen und Nöte der Menschen dort zu zeigen - zusätzlich noch von einem Doku-Team begleitet wird, das uns dabei filmt. Wir haben unseren Gesprächspartnern gesagt: „Wir sind hier für Euch, unsere Zeit gehört allein Euch. Die zwei Typen da hinten, die müssen Euch nicht interessieren, die werden Euch auch nicht filmen.“ Das hat auch relativ gut funktioniert. Es macht die Arbeit vor Ort aber nochmal komplexer.
Herr Reichelt, Ihr Kollege Ralf Schuler (Leiter der „Bild“-Parlamentsredaktion) sagt in der Dokumentation: „Es sollte nicht vordringliches Ziel von Journalismus sein, politisch Einfluss zu nehmen.“ Wie passt das beispielsweise zur Corona-Rechnung der „Bild“ an China, die auch thematisiert wird?
Reichelt: Bei der viel diskutierten und international beachteten China-Geschichte handelt es sich sehr klar erkennbar um das journalistische Genre des Kommentars. Was Ralf Schuler meint, ist die subtil erzieherische Auslegung von Journalismus, die wir inzwischen so wahnsinnig häufig erleben, auch getrieben durch Social Media. Diese Angst unpopulär zu sein und deshalb die Leute subtil dazu zu erziehen, auf der richtigen Seite zu stehen - was auch immer man als die richtige Seite betrachtet. Und den Vorwurf kann man dem China-Kommentar wohl kaum machen: Das war das Gegenteil von subtil. Das war meine Meinung, zu der ich bis heute ganz klar stehe.
Anders gefragt: Macht "Bild" Politik?
Reichelt: „Bild“ hat eine klare Meinung zu politischen Vorgängen und die äußern wir sehr klar. In den meisten Fällen ist sie auch klar als Kommentar erkennbar. Und dort, wo es sich vermischt - was im Genre Boulevard aber auch allen anderen Medien vorkommt - ist es bei uns sehr offenkundig, weil unsere Zeilen größer sind. Das ist nicht „Politik machen“, sondern Politik leidenschaftlich kommentieren und emotional einordnen.
Wenn CDU-Generalsekretär Paul Ziemiak sagt „Das Gefühl von Unhöflichkeit fehlt bei der Bild“ - ist das Kompliment oder Kritik für Ihre Arbeit?
Würzbach: Ich würde sagen, das ist ein Kompliment. Auch eine vierte, fünfte oder sechste Anfrage an Politiker rauszuschicken, empfinde ich nicht als unhöflich, sondern hartnäckig. Der Ton macht die Musik. Hartnäckigkeit als Unhöflichkeit zu betrachten? Dann wäre der Journalismus am Ende.
"Wir vergreifen uns dabei manchmal im Ton"
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt
Wenn der Ton die Musik macht: Herr Reichelt, wie passt dazu eine Anfrage an Christian Drosten mit der Bitte um Stellungnahme binnen extrem knapp bemessener 60 Minuten, die „Bild“ viel Kritik einbrachte?
Reichelt: Nein, das war sicher nicht angemessen. Aber lassen Sie es mich anders beantworten: Wir hinterfragen für unsere Leserinnen und Leser Entscheidungen von Politikern, Wirtschaftsbossen, Wissenschaftlern und Institutionen, um sie an ihre Verantwortung zu erinnern.
Moment, das stelle ich nicht in Abrede…
Reichelt: Ja, nun warten sie mal. Ich werde jetzt überraschend selbstkritisch. Wir sind bei der Wahrnehmung dieser Aufgabe hartnäckiger als alle andere, und ich sehe das als Kompliment. Aber wir vergreifen uns dabei manchmal im Ton. Das Genre Boulevard ist ein Grenz-Genre, das immer Grenzen austestet und Tabus ausleuchtet oder bricht. Das tun wir sehr oft auf richtige und notwendige Art und Weise, aber manchmal unterlaufen uns in unserem leidenschaftlichen Bestreben, unserer Aufgabe nachzukommen, wie hier auch Fehler. Und ich hoffe, dass man auch das in der Doku sieht.
Worin bestand der Fehler?
Reichelt: Wir stellen der Charité seit Jahren Anfragen, die Charité hat in unzähligen dokumentierten Fällen dann mehr Zeit erbeten und wir haben mehr Zeit eingeräumt. In dem Fall hat Professor Drosten nicht mehr Zeit erbeten, sondern unsere Anfrage getwittert. Das wäre sicher auch anders gegangen, aber ich habe gelernt: In einem bei Twitter so aufgeheizten Umfeld, das nur in Heilsbringer und Bösewicht unterscheidet, hätte man eine mögliche Eskalation bedenken müssen, und das nicht bedacht zu haben, war bei der Anfrage der Fehler.
Die Dokumentation zeigt auch den Fall Sido, der bei einem Interview-Versuch vor seinem Haus gegenüber einer Kollegin ausfallend geworden ist. Herr Reichelt, Sie sagen zu den Szenen: „Da muss man doch nicht bigott sein, das ist das Beste, was passieren kann.“ Ist es nicht das Gegenteil von Journalismus, wenn ich nicht nach Erkenntnissen suche sondern Erwartbares wie die Empörung von Sido provoziere?
Reichelt: Niemand schickt irgendjemanden irgendwo hin mit der Hoffnung, dass so etwas passiert. Sollten wir Menschen, die sich in dieser Corona-Krise sehr beunruhigend äußern - und in diesem Fall ging es um antisemitische Äußerungen - grundsätzlich damit konfrontieren? Wenn man Millionen Fans hat; gehört es zur Transparenz zu zeigen, was das für ein Mensch ist, der solche antisemitische Verschwörungstheorien verbreitet? Ein ganz eindeutiges Ja. Hinzufahren und am Gartenzaun zu fragen ist aus meiner Sicht legitim, weil das Thema schwer wiegt. Dann ist passiert, was passiert ist. Journalisten körperlich zu drohen und anzugreifen finde ich abscheulich. Seine Reaktion ist entlarvend. Auf eine Frage mit Gewalt zu reagieren, ist die ultimative entlarvende Verdichtung, die für ein Medium, das zunehmend bewegte Bilder produziert und verbreitet, natürlich extrem gutes Material ist. Alles andere wäre eben bigott.
Stichwort bigott: Zur Sprache kommt in der Dokumentation auch die innige Verabschiedung von FDP-Vorsitzenden Christian Lindner vorm Borchardt in Berlin. Da gab es Streit…
Würzbach: Julian weiß, dass ich da bei Christian Lindner anderer Meinung bleibe als er, was in der Dokumentation auch zu sehen ist. Für mich war in dem Fall wichtig, dass er mit dem weißrussischen Konsul unterwegs war. Ich finde das Foto heute immer noch in Ordnung, wenn Politikern zu den AHA-Regeln mahnen, sich dann anders verhalten und die weißrussische Komponente kam eben noch dazu. Julian und ich haben uns darüber ausgetauscht. Wir sind da friedlich auseinander gegangen.
"Ich bin überzeugt, dass Bigotterie etwas ist, vor dem wir uns immer in Acht nehmen müssen, weil das der große Vorwurf ist, der Menschen, Medien und Machthaber zunehmend entfremdet."
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt über Bild Live
Reichelt: Wenn die Geschichte gewesen wäre, „Was macht Christian Lindner hier mit dem Honorarkonsul des Unrechtsregimes?“, dann wäre es vollkommen fein gewesen. Mir ging es hier um Transparenz ohne Bigotterie. Ich wusste eben, dass wir an dem Abend selber im Borchardt waren, und wusste, wie es an dem Abend im Borchardt zu sich ging. Da müssen wir vorsichtig sein, anderen etwas vorzuhalten. Ich bin überzeugt, dass Bigotterie etwas ist, vor dem wir uns immer in Acht nehmen müssen, weil das der große Vorwurf ist, der Menschen, Medien und Machthaber zunehmend entfremdet. Aber die Dokumentation zeigt eben, dass wir uns bei „Bild“ sehr intensiv und auch mal konfrontativ austauschen.
Macht es die Pluralität der Meinungen „Bild“ auch so einfach morgen etwas anderes zu fordern als gestern? Anders kann ich mir manche 180-Grad-Wende nicht erklären.
Würzbach: Ich überlege gerade, was Sie damit meinen. Haben sie dafür ein konkretes Beispiel?
Im September feierte „Bild“ beispielsweise den Föderalismus, forderte "keine krampfhafte Einigkeit" zwischen Bundesländern. Wochen später wurde der Föderalismus als unverständliches Chaos dargestellt…
Reichelt: Bild versteht Deutschland, Bild weiß, wie Deutschland tickt - besser als jede andere Medienmarke in Deutschland. Das verdanken wir unserer Vielzahl an Reporterinnen und Reportern. Meine Lektion daraus ist immer wieder: In der Realität sind Menschen nicht immer klare Kante, sie sind nicht polar. Leben unter diesen Bedingungen bedeutetet Widerspruch: Sicher sein wollen, aber einkaufen gehen können. Diese Widersprüche und sich wandelnde Stimmungen spiegeln sich auch im Pluralismus bei „Bild“, besonders gerne auch zwischen Alex Würzbach und mir. Wir haben vollkommen unterschiedliche Emotionen zur Schärfe der getroffenen Maßnahmen und der Betrachtung der Situation, wenn Markus Söder beispielsweise sagt: „Die Todeszahlen sind aktuell so hoch, als würde jeden Tag ein Flugzeug abstürzen.“
Würzbach: Stimmt.
Wie viel Meinung in „Bild“ entspricht nicht Ihrer Meinung, Herr Reichelt?
Reichelt: Mehr als Sie denken.
„Bild. Macht. Deutschland?“ dokumentiert auch den Aufbau von Bild Live. Ein Boulevard-Platzhirsch in Print und Online begibt sich in einen Wettbewerb, in dem man erstmal Underdog ist. Wie groß sind Ihre Ambitionen oder ist Bild Live nur ein Hobby a la Steve Jobs?
Reichelt: Ein sehr schöner Vergleich, weil das Hobby von Steve Jobs ja, wenn ich mich richtig erinnere, Pixar war und was daraus geworden ist, wissen wir alle. Ähnlich stelle ich mir das natürlich für Bild Live vor (lacht). Aber sie haben einen interessanten Begriff benutzt. Journalismus ist für mich immer der Beruf des Underdogs.
Diese Einschätzung kollidiert aber mit manchen Szenen der Dokumentation.
Reichelt: Natürlich habe ich Kontakt zu Politikern, der für andere Menschen nicht möglich ist. Natürlich führe ich andere Gespräche, natürlich ist die Verbindung enger. Die Dokumentation zeigt viele Hintergrundgespräche, die normal sind im Journalismus. Aber trotzdem versuche ich mich immer wieder selber daran zu erinnern, dass wir nicht Teil davon sind und nicht Teil davon sein sollten. Journalismus ist kein Beruf für Menschen, die dazugehören wollen. Journalismus ist ein Beruf für Underdogs. Es muss ein wir und ein die geben.
Was Sie sagen ist richtig, aber die Bilder der Dokumentation stützen das nicht gerade, wenn Sie beispielsweise nebenbei erheitert mit Markus Söder simsen.
Reichelt: Also das eine ist, ob ich mit Politikern SMS schreibe oder telefoniere. Das andere ist doch, was dann im „Bild“-Kommentar steht. Zu seinem Flugzeug-Zitat hatte der Kommentar die Überschrift „Einspruch Herr Ministerpräsident“ und widersprach ihm. Wenn dieser Kommentar nicht erschienen wäre, weil ich mich mit Herrn Söder austausche, dann hätten wir ein Problem. Das darf niemals passieren. Aber um zu ihrer Frage zurück zu kommen: Diese Underdog-Rolle, die wir im Bewegtbild haben, tut uns allen gut. Sie holt uns raus aus einer Routine, in der wir und viele Teile der Medienlandschaft stecken und die dazu verführt zu glauben, man wisse ja, wie alles funktioniert und sei der Größte. Ich möchte uns dazu zwingen, Underdog zu sein. Dann haben wir eine reelle Chance, mit neuen Erzählweisen und Formaten bei Bild Live zu experimentieren.
"Kein Fernsehsender entsteht über Nacht"
Bild-Videoreporterin Angelique Geray
Frau Geray, wie würden Sie als Videoreporterin die Wertschätzung und Integration des Video-Contents im Hause "Bild" bewerten?
Geray: Zu verstehen, wie Fernsehen funktioniert, ist ein langer Lernprozess, der bei vielen auch noch nicht abgeschlossen ist. Für mich war die Umstellung nicht ganz so groß, weil ich schon immer Video gemacht, vorher auch beim Fernsehen gearbeitet habe. Die einfachste Erkenntnis: Es ist aufwändiger, einen Fernsehbeitrag zu machen als eine Story mit achtzig Zeilen und einem Foto zu erstellen. Und Text entsteht nicht im Moment wie ein vor Ort gedrehtes Video. Da muss man sich rantasten, aber „Bild“ hat sich immer neugierig mit neuen Formen beschäftigt. Das machen wir hier jetzt auch, mit Expertise, die wir inhouse haben und Experten von außen, die helfen. Wir können immer noch besser werden. Kein Fernsehsender entsteht über Nacht.
Spielt Bild Live für die „Bild am Sonntag“ eigentlich eine Rolle?
Würzbach: Angelique hat es richtig gesagt: Wir sind im Wandel und der Weg ist der richtige - das ist vielleicht noch nicht bei allen zu 100 Prozent angekommen, da werden hier und da auch noch Verteilungskämpfe gekämpft. Ich selbst bin ja eine alte Print-Sau, seit mehr als 30 Jahren. Da legt man auch nicht von heute auf morgen den Schalter um, aber wir sind auf der Zielgeraden und ich bin begeistert, wie relativ schnell wir dann doch gemeinsam begreifen und leben, dass Bild jetzt auch Fernsehen macht.
Muss sich die „Bild am Sonntag“ stärker als Gegenpol zu "live und schnell" positionieren?
Würzbach: Die „Bild am Sonntag“ legt in diesem Jahr trotz Corona ganz ordentliche Zahlen vor, also müssen wir dort nichts grundlegend ändern. Nun wollen wir, seit wir mit Bild Live gestartet sind, Video auch zu Text machen, um von Gästen in den Sendungen zu profitieren. Da ist es so, dass es am Samstag noch nicht so viel Bild Live gibt wie an anderen Tagen, so dass die „BamS“ erstmal so bleiben wird, wie sie ist. Es wird sich zeigen, wie die Situation aussieht, wenn wir mit sechs, acht, zehn oder noch mehr Stunden pro Tag live drauf sind und wir dann mehr davon auch in der „BamS“ abbilden könnten, wenn das Samstagsprogramm anders aussieht.
Reichelt: Alexandra Würzbach hat die „BamS“ ganz massiv geprägt und verändert, was dazu geführt hat, dass die Zahlen nicht nur „ganz ordentlich“ sind. Sie sind hervorragend und lassen im strukturell rückläufigen Print-Markt vor Neid erblassen.
Herr Reichelt, wir müssen eine Begrifflichkeit klären, weil die Wörter schon gefallen sind. Soll Bild Live nun ein Nachrichtensender werden? Ist das Fernsehen, was sie hier machen wollen?
Reichelt: Das Wort Nachrichtensender ist aus meiner Sicht nicht ganz zutreffend. „Bild“ ist ja auch keine Nachrichtenzeitung. Wir erzählen Geschichten; die Geschichten, die das Land bewegen und Menschen am dringlichsten betreffen, in einer sehr emotionalisierten Weise. Das wollen wir übersetzen in ein am Ende einmal durchgehendes Programm. Interessanterweise wurde „Bild“ ja von Axel Springer als gedruckte Antwort auf das Fernsehen konzipiert. Wir nutzen jetzt neue Technologien, um das, was Axel Springer nicht machen konnte - weil es keine Lizenz gab -, konsequent weiter zu denken. Wir sind kein Sender, der die Nachrichten präsentiert, sondern ein Sender, der die Geschichten, die dieses Land bewegen, menschlich und emotional zu erzählen, wie es „Bild“ immer schon getan hat. Zum Thema Nachrichten: Wir konkurrieren nicht mit anderen Nachrichtensendern darum, wer die dpa-Eilmeldung zuerst ins Laufband stellt. Unser Anspruch ist, diese News zu generieren, wie es uns dieses Jahr bei den Konferenzen der Ministerpräsidenten mit der Kanzlerin gut gelungen ist.
Ist das Ziel ein klassisch verbreiteter Fernsehsender?
Reichelt: Mein Anspruch ist es, dass wir perspektivisch - weil es kein besseres Wort gibt - als Sender wahrgenommen werden. Aber wo diese Wahrnehmung stattfindet, können wir alle noch nicht sagen. Da denken wir als Start-Up innerhalb von „Bild“ plattformagnostisch. Wir wollen wie immer mit der Marke „Bild“ da hin, wo die Menschen sind, und auch auf die großen Bildschirme, wie auch immer das technisch passiert - via OTT-App, via einprogrammiertem Sender oder via Spiegelung vom Smartphone. Das treibt mich nicht um, das wird der Wandel der Mediennutzung zeigen. Mir geht es darum: Wann immer etwas passiert, ist Bild live.
Die Monetarisierung von Bild Live erschöpft sich momentan bei einem Pre-Roll-Werbemittel. Da wäre doch die höherpreisige Fernsehwerbung verlockend oder nicht?
Reichelt: Ich glaube, es ist derzeit noch nicht absehbar, wie genau werbefinanzierte Programme ideal vermarktet werden können, weil sich die Nutzungssituationen stetig entwickeln. Aber die Perspektive, die Sie aufzeigen, ist richtig, um Erlöse zu generieren, die „Bild“ angemessen sind.
Bild live ist meinungsstark, weil sich mit Meinung Strecke füllen lässt. Ist das die Lücke, die sie füllen möchten? Das war Nachrichtenfernsehen in Deutschland bislang nicht in dem Umfang.
Reichelt: Ich sehe zwei Säulen für unser Programm, die Double-O-Strategie wie ich sie nenne. Ongoing und Opinion. Wir sind nicht „Top-of-the-hour“-News.
Bewegt sich Bild damit auf dem Pfad, auf dem Fox News zum Erfolg wurde?
Reichelt: Es wäre eine gewaltige Fehleinschätzung. Das Geheimnis der Marke „Bild“, der Erfolg und das Wachstum, ist nicht möglich geworden durch Spaltung, sondern durch Besinnung auf das, was uns eint. Auf Fox News kann sich nur die Hälfte des Landes einigen, wir haben den Anspruch alle zu erreichen. Auch der britische Boulevard sucht in der Brexit-Debatte nach den Punkten, auf die man sich nicht einigen kann und spaltet damit. Wir suchen nach den Aspekten, auf die man sich einigen kann.
Mit Verlaub: Das dürften nicht wenige anders sehen.
Reichelt: Klare Kante zu zeigen, gehört zum Boulevard. „Bild“ versteht sich als Stimme Deutschlands und will immer alle erreichen. Wir machen keine Zeitung für die Stimme Twitters, dort wird gespalten.
In einer Szene greifen Sie zum Hörer, weil das Logo von „Bild Live“ fälschlicherweise am rechten Bildrand zu sehen ist. Das müsse korrigiert werden. Und sagen dann: „Das Logo ist immer links. Das ist aber auch das Einzige, was hier links ist.“
Reichelt: (lacht) Die Menschen kriegen es in dieser Doku schonungslos mit meinem Humor zu tun. Wenn man über seine eigenen Witze lachen kann - was damit gut dokumentiert ist - ist man immer gut gelaunt.
Was kann eigentlich ein Hans Mahr (Ex-RTL-Chefredakteur und heute Berater von Bild Live), was Julian Reichelt nicht kann?
Reichelt. Es gibt offenkundige Gründe für Hans Mahr, weil kaum einer mehr Telefonnummern eingespeichert hat und wenn wir Gäste brauchen, dann bleibt Hans Mahr dran, bis der Gast bei uns ist. Dafür ist er aus seiner RTL-Zeit in der Branche bekannt und berühmt. Aber was viel wichtiger ist: Einen Geist zu entwickeln, wie sich das erprobte Bild-Konzept von großen Schlagzeilen auf dem Titel, jetzt auf Bewegtbild übertragen lässt. Wie kann Bewegtbild die Wirkung einer Titelseite entfalten? Und da hilft Hans Mahr uns mit einer Mentalität, die seine Frau Katja Burkhard mal gut auf den Punkt gebracht hat: „Dem Hans ist nichts egal“. Er lebt vor, dass einem nichts egal sein sollte. Auch ein Tippfehler in der Bauchbinde darf nicht egal sein. Das ist ein Geist, den er mitbringt, den ich mir für uns alle wünsche.
"Perspektivisch soll Bild Live nicht aussehen, wie diese 9-, 12- und 18 Uhr-Sendungen aussahen."
"Bild"-Chefredakteur Julian Reichelt
Aber er war es nicht, der Ihnen geraten, hat die 12 Uhr-Sendung zu streichen, weil sie gegen „Punkt 12“ mit seiner Frau läuft?
Reichelt: (lacht) Nein, aber es war interessant, da einen Generationen-Unterschied zu bemerken. Für Hans Mahr war das die Absetzung einer Sendung. Für mich war das einfach die Konzentration der derzeitigen Ressourcen auf das, was wir perspektivisch machen wollen. Perspektivisch soll Bild Live nicht aussehen, wie diese 9-, 12- und 18 Uhr-Sendungen aussahen. Das waren Trainings und Transformationsübungen. Wir wollen durchgehend Geschichten erzählen, immer verbunden mit Kapazität für Breaking-News-Situationen, aber das zu bauen, ist schwierig, weil es das so nie gab.
Letzte Frage an alle: Was haben Sie durch die Doku über sich und das eigene Haus gelernt?
Geray: Ich bin überzeugt, dass es wertvoll war, mal selber Gegenstand der Berichterstattung zu sein, weil es uns das spiegelt, was wir ja sonst machen: Nah dran sein an unseren Protagonisten.
Würzbach: Ich konnte nicht viel mehr über mein Haus lernen, aber finde hier vieles von dem eingefangen, was ich seit Jahren und Jahrzehnten hier erlebe.
Reichelt: Transparenz ist schwierig, manchmal lästig und manchmal eine Zumutung, aber nun einmal das Fundament unserer Gesellschaft.
Frau Geray, Frau Würzbach, Herr Reichelt, herzlichen Dank für das Gespräch.
Die siebenteilige Dokumentation "Bild. Macht. Deutschland?", von Constantin Entertainment für Prime Video produziert, ist ab Freitag online verfügbar