Herr Yıldırım, Sie sind im Hamburger Stadtteil Dulsberg aufgewachsen.

Ja, inklusive Schule, Abi, Zivildienst in einer Dialysestation, aber dann bin ich von dort weggezogen.

War das damals schon oder noch ein sozialer Brennpunkt?

So nannte man das zwar noch nicht, aber es war auf jeden Fall ein heißes Pflaster. In meiner Jugend galt Dulsberg als sozial schwächster Stadtteil Hamburgs, bis es im neuen Jahrtausend massiv renoviert wurde und den schlechten Ruf ziemlich verloren hat.

Gibt es dort trotzdem noch Frauen wie Hajra, Jazz, Fanta und Rasaq, die Hauptfiguren Ihrer neuen Serie "Para"?

Keine Ahnung, aber in den Neunzigern gab es sie, auch wenn meine ersten Freundinnen keine Hajra oder Jazz waren. Trotzdem wusste ich, wie tough Frauen in meinem Umfeld sein konnten. Bei mir nebenan haben zwei davon einer Mitschülerin mal den Arm gebrochen. Ohne soziale Medien wurde das zwar anders verbreitet als heute, aber Mund zu Mund hat es doch die Runde gemacht.

Und wurde in Brennpunkt-Formaten wie "Chiko", "4 Blocks" oder "Para" verarbeitet?

Verarbeiten klingt nach Psychotherapie, aber diese Welten meine ich so gut zu kennen, dass ich mir auch als Filmemacher ein authentisches Bild davon machen und das Gefühl dafür zum Ausdruck bringen kann. Mit meiner Backstory fällt mir das womöglich leichter als Regisseuren, die von außen draufblicken.

Zumal als Gastarbeiterkind, dessen Eltern aus der Türkei ausgewandert sind.

Mein Vater war nachts Taxifahrer und tagsüber bei der Post, meine Mutter Schneiderin, und unsere Wohnung hatte 50 Quadratmeter – das war meine Realität, sie fand aber im Fernsehen praktisch überhaupt nicht statt. Manchmal kamen in "Wolffs Revier" oder beim "Großstadtrevier" Gangster mit hörbar geschriebenen Lines vor. Es hat mich schon als Kind gestört, dass diese Menschen im Film anders reden als in der Realität.

Und haben es deshalb besser gemacht?

Na ja, zunächst habe ich Horrorstorys geschrieben, mit zehn, elf Jahren. Kurzgeschichten, die ich sogar in einen Sammelband verlegen durfte. Für die 12.000 Mark Eigenbeteiligung an den Verlag musste mein Vater einen Kredit aufnehmen.

Unsere Popkultur ist so selbstbewusst, dass neben Gangsta-Rap auch Gangster-Serien wie "4 Blocks" hochwertig und glaubhaft sind.

Hat sich das ausgezahlt?

Höchstens langfristig. Von den Büchern wurden nicht viele verkauft. Ich hab‘ hier sogar noch einige hier rumstehen. Inhaltlich haben die ohnehin wenig mit meinem Alltag zu tun, aber sie bilden eine Klammer zu "Para". Denn wie HipHop kamen auch Horrorfilme fast ausschließlich aus dem Ausland; jetzt hören die Kids fast nur deutschen Rap, und deutsche Serien werden immer ansehnlicher. Unsere Popkultur ist so selbstbewusst, dass neben Gangsta-Rap auch Gangster-Serien wie "4 Blocks" hochwertig und glaubhaft sind.

Erfordert diese Glaubwürdigkeit, dass der Filmemacher aus demselben Kiez kommt wie die Protagonisten oder kann man sich das auch aneignen?

Hängt vom Anspruch ab. Wenn es um Authentizität geht, ist es von großem Vorteil, das Milieu aus eigener Erfahrung zu kennen; das gilt allerdings auch, wenn man was über Landwirte oder Banker macht. Wenn ich das versuche, muss der Film nicht schlechter sein. Man würde ihm aber anmerken, dass ich nicht aus der Welt herausschaue, sondern auf sie drauf. "Chiko" hat 2008 auch deshalb so gut funktioniert, weil das Publikum meine Vertrautheit mit der Gegend gespürt haben, das hat sich einfach nicht so unecht angefühlt.

So unecht wie kurze Abstecher des "Tatort" nach Wedding oder Dulsberg?

Genau. Lebensgefühl ist unerlässlich für die Figuren in "Chiko" oder "4 Blocks". Und so brutal, oft unmenschlich sie mit Abstrichen auch in "Para" agieren: es sind echte Geschichten echter Menschen aus echten Welten heraus.

Para - Wir sind King © Pascal Bünning / WB / TNT

Auch Hajra, Jazz, Fanta und Rasaq sind also keine bürgerlichen Projektionen, sondern echter Brennpunkt?

Die gibt‘s genauso im Wedding. Wobei wir nicht "4 Blocks" mit bösen Mädchen statt bösen Jungs erzählen. Für testosterongesteuerte Menschen im Publikum könnte "Para" also zu wenig Gangsta sein. Die vier kommen zwar aus der Gegend, wollen aber keinen Bezirk kontrollieren, sondern ein kleines Stück vom Luxus der Reichen im Grunewald, mehr nicht. Deshalb ist die Atmosphäre auch weniger gewalttätig und düster. Der Wedding ist eben nicht nur Männergewalt wie in "4 Blocks", sondern auch Frauenalltag wie in "Para".

Kann man den Darstellerinnen die impulsive Sprache der Straße überhaupt Wort für Wort ins Drehbuch schreiben oder ist das alles Improvisation?

(lacht) Ich arbeite seit "Chiko" ähnlich. Ob mit Wotan Wilke Möhring beim "Tatort" oder mit Kida Khodr Ramadan in "4 Blocks": um sie wirklich zu verstehen, führe ich unendlich viele Gespräche über jede einzelne Figur jeder einzelnen Szene. Und wenn wir uns darüber im Klaren sind, schmeiße ich die Darsteller mit Stichworten in die Szene und schaue, was passiert.

Texte sind also nur Orientierungshilfen?

Texte sind Texte. Alles andere wäre respektlos den Autoren gegenüber. Aber Regieanweisungen, wo genau wer wann zu stehen oder gehen hat, vermeide ich seit jeher. Die Intensität der Worte entsteht durch die Art der Umsetzung. Ego klingt immer so negativ, aber es muss bei jedem Charakter mitschwingen. So tasten sich Darsteller und Drehbuch aneinander ran. Ich bin kein technischer Regisseur, der den Leuten bloß Vorschriften macht, das hat mir zu wenig Seele. Mein Prinzip heißt Gruppendynamik.

Nichts ist schlimmer als gute Schauspieler, die hölzern wirken

Sehen Sie es als Zuschauer Filmen an, ob sie gruppendynamisch oder vorschriftsmäßig entstanden sind?

Würde ich mal behaupten. Ich mache das seit mittlerweile 13 Jahren professionell, da entwickelt man ein Gespür dafür, ob jemand wirklich mit den Schauspielern arbeitet. Meine jedenfalls bedanken sich öfter bei mir, endlich mal nichts aufsagen zu müssen. Nichts ist schlimmer als gute Schauspieler, die hölzern wirken.

Heißt das, wortgetreu aufgesagter Text sorgt automatisch für schlechtere Filme?

Nein! Natürlich können gescriptete Serien und Filme großartig sein – sofern sie einen stilistischen Ansatz verfolgen. Wenn ich mein DVD-Regal hier durchsehe, sind tolle Sachen dabei.

Was sehen sie denn?

Mal schauen. "Nightcrawler" von Dan Gilroy oder noch Nicolas Winding Refns "Drive". Der hat definitiv nicht den Anspruch, authentisch zu sein. Wer wie ich diesen Anspruch hat, sollte dagegen nicht nach Punkt und Komma arbeiten.

Könnten Sie sich als Regisseur, der mit maximal artifiziellem Horrorfilm begonnen hat und jetzt maximal authentische Milieustudien dreht, einen maximal authentischen Horrorfilm vorstellen?

(lacht) wer weiß. Man entwickelt sich ja weiter und kriegt das Bedürfnis, sich nicht ständig zu wiederholen. Da ist "Para" trotz des gleichen Milieus wie "4 Blocks" aber schon deshalb ein neuer Schritt, weil ich erstmals weibliche Protagonisten in den Vordergrund stelle. Und diese Runde musste ich dringend drehen.

Herr Yıldırım, vielen Dank für das Gespräch.

TNT Serie zeigt "Para - Wir sind King" ab dem 22. April donnerstags um 21 Uhr