Herr Krupp, Sie sind im HR-Fernsehen seit einigen Monaten dabei, aus klassischen Magazinformaten wie "defacto" oder "Hauptsache Kultur" Marken für Doku- und Reportage-Reihen zu machen. Wie sind Ihre ersten Erfahrungen mit der Reduzierung der Magazinform am Hauptabend?

Wir haben in unserer Bewegtbildstrategie entschieden, dass wir die Angebote für das lineare Fernsehen und für die zeitunabhängige Nutzung in der Mediathek als gleichwertig betrachten, weil wir damit unterschiedliche Zielgruppen ansprechen und mehr Menschen erreichen wollen. Das bedeutet im HR-Fernsehen, dass wir am Nachmittag und am Vorabend, wo die Regionalangebote am stärksten genutzt werden, unsere Formate so ausrichten, dass sie vor allem auf die Zuschauerinnen und Zuschauer im Fernsehen ausgerichtet sind. Im Hauptabend dagegen wollen wir Schritt für Schritt alle Eigenproduktionen so ausrichten, dass sie zuerst in der Mediathek möglichst auch jüngere Nutzerinnen und Nutzer ansprechen und danach auch linear gesendet werden können. So haben wir beispielsweise bei "Hauptsache Kultur" erst die multithematischen Magazine zugunsten von monothematischen reduziert und gehen jetzt den Schritt zur Ausrichtung auf Dokumentationen und Reportagen. Bei "defacto" ist das Magazinformat inzwischen komplett abgelöst worden durch Dokumentationen, die übrigens auch linear erfolgreich waren.

Klingt so, als ob Sie diesen Schritt weiterempfehlen würden.

Wir machen damit momentan wirklich positive Erfahrungen, kennen aber natürlich auch die Schattenseiten. Es ist doch nicht so, als ob solche Prozesse ohne Diskussionen verlaufen würden. Da gibt es selbstverständlich auch Trennungsschmerz. Das Großartige ist doch, dass die Magazine von leidenschaftlichen Journalistinnen und Journalisten gestaltet werden, die sich mit ihrer Marke identifizieren. Gemeinsam müssen wir uns fragen: Wie können wir diese Leidenschaft so aktivieren, dass genügend attraktive Angebote auf unseren nonlinearen Plattformen entstehen? Denn nur damit werden wir auf Dauer die jüngeren Menschen erreichen, die den gesellschaftlichen Diskurs von morgen prägen. Insofern sehe ich diesen Prozess auch als Zukunftssicherung für die journalistische Kompetenz, die in den Magazinen geballt vorhanden ist.

Gilt das auch für das große Ganze der ARD? Stehen Sie aufseiten von Programmdirektorin Christine Strobl in der Diskussion, ob die Magazinredaktionen künftig mehr Dokus und weniger Magazine machen sollen?

Es wäre unterm Strich eine klare Stärkung unseres Informationsangebots in der ARD, weil wir mit unserer journalistischen Qualität mehr Menschen ansprechen, also auch jene, die das lineare Fernsehen immer weniger nutzen. Die Zahl der Sendeplätze bleibt erhalten, aber die reinen Magazine werden so reduziert, dass dafür aus den Magazinredaktionen heraus neue Formate entstehen, die man attraktiv in der Mediathek platzieren kann und natürlich auch linear. Im Hinblick auf Machart, Bandbreite und Hintergrund wäre das eine ganz andere, nicht zu unterschätzende Qualität. Die profilierten Macherinnen und Macher der Magazine können in der Mediathek andere Publika erreichen und damit ihre Relevanz sogar erhöhen. Mehr Vertiefung und Hintergrundinformationen stärken eine unserer wesentlichen Auftragsdimensionen. Wenn wir alle Menschen ansprechen wollen, dann müssen wir vermehrt Angebote für diejenigen machen, die kaum noch linear schauen, aber mit hohem Interesse Information, Bildung und Kultur zeit- und ortsunabhängig souverän nutzen wollen.

"Man kann dem Team der ARD-Mediathek wirklich nicht vorwerfen, dass sie den Magazinen keine Chance gegeben hätten"
Manfred Krupp, Intendant des Hessischen Rundfunks

Wortführer des Protests wie etwa "Monitor"-Redaktionsleiter Georg Restle sind offenbar gern bereit, die Dokus zusätzlich zu stemmen. Und sie sagen, für die Magazine sei in der Mediathek nicht genug getan worden.

Wir alle wissen doch inzwischen: Es macht keinen Sinn, einzelne Beiträge aus Magazinen herauszulösen und sie in die Mediathek zu stellen. Das entspricht nun mal nicht dem Nutzungsverhalten. Man kann dem Team der ARD-Mediathek wirklich nicht vorwerfen, dass sie den Magazinen keine Chance gegeben hätten. Ich kann ja durchaus verstehen, dass jetzt manche Redaktionen sagen: Gebt uns einfach Add-ons! Aber wir haben nun mal einen begrenzten Rahmen an Möglichkeiten, deshalb müssen wir priorisieren. Wenn im Zweifel die Priorisierung hieße, dass wir alles so weitermachen wie bisher, dann würden wir auf Dauer verlieren. Daher möchte ich alle ermuntern: Lasst euch doch mal drauf ein!

Inwieweit wären davon Zulieferungen des HR ans Erste betroffen?

Es ist ja besonders leicht, anderen Ratschläge zu erteilen, wenn man nicht selbst betroffen ist. (lacht) Der HR hat kein politisches Magazin im Ersten, aber wir sind am Wirtschaftsmagazin "Plusminus" beteiligt. Lassen Sie uns also gern die Diskussion darauf beziehen. Wir steuern bisher sieben bis neun "Plusminus"-Ausgaben im Jahr aus Frankfurt bei. Künftig sind es dann zwei bis drei weniger, dafür zwei bis drei mehr Reportagen oder Dokumentationen aus der Wirtschafts- und Finanzwelt. Wir sehen darin eine Riesenchance. Die wichtige Botschaft vom Team Strobl/Hager/Köhr lautet doch: Wir machen endlich eine integrierte Programmplanung – nicht mehr eine Programmplanung für Das Erste, und nebenbei wird die Mediathek auch noch irgendwie gefüllt.

Torsten Zarges, Manfred Krupp © HR "Diskussion auf 'Plusminus' beziehen": Manfred Krupp im Gespräch mit DWDL.de-Chefreporter Torsten Zarges

Im HR-Fernsehen machen Sie selbst vor den Nachrichten nicht Halt. Die Spätausgabe der "Hessenschau" muss seit kurzem ohne Studiomoderation auskommen.

Die Spätausgabe der "Hessenschau", die an den meisten Wochentagen um 22:15 Uhr läuft, ist in ihrer linearen Reichweite schon allein durch die unmittelbare Konkurrenz zu "heute-journal" und "Tagesthemen" begrenzt. Trotzdem haben wir einen Informationsauftrag, und der gilt auch für Zielgruppen, die ihre Nachrichtenversorgung nicht zwingend im Linearen suchen. Also haben wir diese Sendung jetzt 'entmagazinisiert' und gestalten sie ohne Moderation. Es gibt weiterhin eine bearbeitete Fassung der wichtigsten Nachrichtenthemen, aber neu ist ein tägliches Schwerpunktthema von sechs bis acht Minuten Länge. Dieses Schwerpunktthema wird zuerst für den YouTube-Channel der "Hessenschau" produziert und dort gegen 20 Uhr hochgeladen, dann in der linearen 22:15-Uhr-Ausgabe zweitverwertet. Stilistisch orientieren wir uns mehr an YouTube als an klassischen Nachrichten und greifen des öfteren Themen auf, die in der Hauptausgabe der "Hessenschau" entweder gar nicht oder nur am Rande vorkommen.

Stecken Sie nicht in einem Widerspruch, wenn Sie einerseits für die Stärkung der Mediathek plädieren, aber andererseits das inhaltliche Engagement auf Drittplattformen wie YouTube sogar noch ausweiten?

In Summe weiten wir unser Engagement auf Drittplattformen nicht aus, sondern durchlaufen eher eine Konzentration aufs Wesentliche. Momentan ist eines unserer größten Projekte die Entwicklung einer Portfolio- und Distributionsstrategie. Wir müssen nicht mit jedem Produkt auf jeder Plattform vertreten sein. Früher hatten wir gerade mit Blick auf Social Media die Strategie "Lasst tausend Blumen blühen". Inzwischen haben wir ungefähr die Hälfte unserer digitalen Produkte wieder eingestellt, darunter etliche Instagram- und Facebook-Profile einzelner Wellen oder Sendungen. Wir halten es für sinnvoller, wenn die Inhalte auf wenige starke Marken wie etwa die "Hessenschau" oder überregional die "Tagesschau" einzahlen. Außerdem ist jetzt die nächste Stufe erreicht, wo es insgesamt stärker darum gehen muss, wie wir die Nutzerinnen und Nutzer von Drittplattformen auf unsere eigenen Plattformen zurückleiten.

"Alle in der ARD fanden es schade, dass das ZDF uns eine junge Wissenschaftsjournalistin aus Heppenheim abgeworben hat"
HR-Intendant Manfred Krupp

Wie wollen Sie das anstellen?

Es war lange Zeit ein Teil unseres Defizits, dass wir sehr gut funktionierende Inhalte auf Drittplattformen hatten, aber den Menschen, die bevorzugt dort unterwegs sind, keine ähnlich faszinierende Alternative bieten konnten. Das ist jetzt endlich der Fall mit einem attraktiven Angebot in der Mediathek und in der Audiothek. Also heißt die Botschaft: Schaut doch mal bei uns rein – einen großen Teil eures Nutzungsbedürfnisses könnt ihr nun auch bei uns befriedigen. Deshalb finden Sie in unseren Clips auf YouTube neuerdings sehr prominente Verlinkungen zur ganzen Sendung in der Mediathek. Eine Instagram-Story der "Hessenschau" sollte eilige Nutzerinnen und Nutzer direkt auf der Plattform vollständig informieren – aber immer auch einen Link auf hessenschau.de enthalten und Lust machen, diesem Link für tiefergehende Informationen zu folgen. Das kann auch heißen, dass wir das Angebot auf Drittplattformen gezielt verknappen oder spezielle Add-ons setzen, die neugierig machen auf die 'main show'. So haben wir eine Chance, insbesondere jüngere Zielgruppen für unser gesamtes Angebot zu interessieren. Unsere Hoffnung ist natürlich, dass am Ende möglichst viele so begeistert von unseren Plattformen sind, dass ihr Weg sie künftig direkt zu uns führt.

YouTube/ARD-Mediathek © YouTube "Schaut doch mal bei uns rein": Die ARD verlinkt ihre Mediathek neuerdings recht prominent auf YouTube

Haben Sie dafür die richtigen Köpfe? Einige, die prädestiniert erschienen, sind der ARD in letzter Zeit abgeworben worden.

Die Frage ist berechtigt. Je digitaler die Menschen ihre Mediennutzung gestalten, desto mehr suchen sie Orientierung über starke Köpfe – das ist das Erfolgsprinzip der YouTuber. Wir werden mit Sicherheit stärker auf Presenter-Personalities setzen müssen, gerade in der Mediathek und gerade auch in journalistischen Formaten. Mir fällt dazu immer wieder ein schöner Ansatz ein, den die ARD bei den US-Präsidentschaftswahlen hatte: Der Anchorman der "Tagesthemen", Ingo Zamperoni, hat das Spektrum unserer Vorwahlberichterstattung aus einer sehr persönlichen Perspektive enorm bereichert. Er hat einen Zugang gefunden, der das Thema nicht nur für informationsaffine Zuschauergruppen geöffnet hat. Das ist für mich ein vorbildliches Beispiel, davon brauchen wir mehr. Auch dazu hat das Team Strobl/Hager/Köhr meiner Meinung nach die richtige Idee: Sie wollen ein zentrales Personality-Management für unsere Plattformen einrichten. Bislang haben sich die Landesrundfunkanstalten jeweils einzeln darum gekümmert. Wenn das funktionieren soll, muss es heutzutage aber viel integrierter und senderübergreifend gedacht werden.

Wie können wir uns ein solches Personality-Management denn vorstellen?

Die Idee ist wenige Wochen alt und muss noch ausgestaltet werden. Alle in der ARD fanden es schade, dass das ZDF uns eine junge Wissenschaftsjournalistin aus Heppenheim abgeworben hat. Da gab es eben nicht den strategischen Austausch, wen wir wo setzen wollen. Da war das ZDF als zentraler Sender einfach schneller. Schön ist es natürlich, dass sie im öffentlich-rechtlichen Kosmos bleibt. Alle Intendantinnen und Intendanten sind jetzt in die Pflicht genommen, das Thema auf der Agenda zu haben. Erstmal sollte die Aufgabe sein, die Köpfe, die wir schon im Ersten haben, und diejenigen, die wir gerade neu gewonnen haben, in den Blick zu nehmen und weiterzuentwickeln. Wir haben ja beispielsweise mit Aline Abboud eine neue "Tagesthemen"-Moderatorin und mit Esther Sedlaczek eine neue "Sportschau"-Moderatorin gewonnen, die sehr spannende Gesichter sind.

Sie haben kürzlich in einem Gastbeitrag für die "FAZ" geschrieben, Sie seien sicher, dass "die Sehnsucht nach gemeinwohlorientierten Institutionen, die sich nicht an wirtschaftlichen oder politischen Interessen orientieren, in der digitalen Welt eher steigen wird". Was macht Sie da so optimistisch?

Einerseits nimmt die Polarisierung immens zu. Wir sind von bestimmten Seiten mit immer aggressiverer Stimmung bis hin zu tätlichen Angriffen auf unsere Reporter und Kamerateams konfrontiert. Andererseits spüren wir als Öffentlich-Rechtliche derzeit – auch durch die Corona-Pandemie – eine Akzeptanz und ein Vertrauen, das wir in dieser Intensität schon lange nicht mehr hatten. Dabei erreichen wir auch Zielgruppen, von denen viele schon glaubten, wir hätten sie endgültig verloren. Laut unserer ARD-Akzeptanzstudie bekommen wir die Unverzichtbarkeit des öffentlich-rechtlichen Rundfunks von der jungen Altersgruppe mit höheren Werten bescheinigt als von der mittleren. Die 30- bis 49-Jährigen haben mehr Kritik an uns als die unter 30-Jährigen, die uns wohl gemerkt immer noch am wenigsten nutzen. Ich glaube, die Jungen spüren die negativen Auswüchse im Netz mit Mobbing und Hate Speech viel stärker und suchen daher ein Vertrauensmedium. Eine faszinierende Chance, die wir nutzen sollten. Schließlich haben wir auch einen Integrationsauftrag. Da wir von allen finanziert werden, müssen wir auch versuchen, alle zu erreichen. Zu "alle" gehören auch diejenigen, die uns eher weniger nutzen, die uns kritisieren und manchmal sogar ablehnen.

Herr Krupp, herzlichen Dank für das Gespräch.

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