Herr Krupp, nach fast vier Jahrzehnten beim Hessischen Rundfunk verabschieden Sie sich in den Ruhestand. Mit welchem Gefühl blicken Sie zurück?

Ich blicke glücklich und mit Dankbarkeit zurück. Da lässt sich der Stress der vergangenen Jahre leicht vergessen. Für mich ist es ein Traum gewesen, Journalist zu werden, und der HR hat mir unglaublich viele Möglichkeiten gegeben. Gleichzeitig habe ich viele tolle Menschen kennengelernt, die in vielen Dingen möglicherweise besser waren als ich, aber im Team waren wir gemeinsam stark.

Warum haben Sie sich in den 80ern für den HR entschieden?

Ich habe mich bei ungefähr zehn Medien für ein Volontariat beworben, mein Werdegang hätte also auch anders verlaufen können. Am Ende hatte ich zwei Möglichkeiten, eine davon war der HR. Letztlich war es meine Frau, die mir gesagt hat: Du wolltest das und gehst da hin. So bin ich beim Hessischen Rundfunk gelandet.

Wie hat man sich den HR in den 80er Jahren vorzustellen – zu einer Zeit, als das Mediengeschäft noch ein ganz anderes war?

Ich kam in einer Zeit der Umbrüche zum HR, auch wenn es zunächst nur drei Fernseh- und drei Hörfunkprogramme gab. Das war lange Zeit ein ziemlich gesichertes System – auch weil in Hessen lange Privatsender nicht zugelassen wurden. Aber als sie dann zugelassen wurden, hat es den HR ganz besonders getroffen.

Wieso?

Ich habe eine Urerfahrung gemacht: Es ist wichtig, nicht nur auf Inhalte zu achten, sondern auch auf Technologie. Der HR hat damals entschieden, sein Programm nicht über Satellit zu verbreiten, weil man davon ausging, dass die terrestrische Verbreitung ausreichend ist. Dem Publikum war das allerdings egal. Gerade in den Gebieten, in denen wir besonders treue Nutzerinnen und Nutzer hatten, vorwiegend in den ländlichen Gebieten, haben sich die Menschen Satellitenschüsseln zugelegt. Das führte dazu, dass das HR Fernsehen, das damals noch Hessen 3 hieß, binnen zwei Jahren vom oberen Drittel der Dritten Programme auf den letzten Platz abgesunken ist, wo es 20 Jahre lang verharrte. Es war letztlich eine meiner Aufgaben als Programmdirektor, das HR Fernsehen dort wegzubringen.

Ist der HR heute stärker in Hessen verankert als damals?

Das lässt sich schwer sagen, aber ganz sicher ist der Hessische Rundfunk heute stärker verankert als vor zehn oder 20 Jahren. Da spielt die regionale Nähe eine große Rolle. Das klingt heute selbstverständlich, war für mich aber eine große Anstrengung – erst als Chefredakteur und dann als Programmdirektor. Einen Schub brachte schlussendlich auch die Pandemie. Wir erreichen nun auch jüngere Menschen mit Traditionsmarken wie der "Hessenschau". Als ich "Hessenschau"-Chef wurde, gab mir der damalige Intendant Klaus Berg zwei Ziele vor: Die "Hessenschau" muss wieder politischer werden und sie muss erfolgreicher werden, weil sie fast zehn Jahre lang eine Seitwärtsbewegung hatte bei zwölf Prozent Marktanteil. Als ich gegangen bin, lagen wir bei 15,5 Prozent – und wir hatten an drei Tagen im Jahr mehr als 20 Prozent. Heute liegt die Sendung im Schnitt bei 26,5 Prozent. Mein Eindruck ist: Je globaler die Welt wird, desto größer wird die Sehnsucht der Menschen nach Heimat und Verankerung in der Region.

Hat denn aus Ihrer Sicht der öffentlich-rechtliche Rundfunk ausreichende Antworten gefunden auf die Herausforderungen dieser Zeit?

Es wäre vermessen zu sagen, wir hätten die richtigen Antworten. Aber wir sind in den letzten Jahren deutlich besser geworden. Es gibt keine ARD-Sitzung, in der wir uns nicht mit Digitalstrategien auseinandersetzen, und wir können stolz darauf sein, dass die ARD-Mediathek mittlerweile das am stärksten genutzte deutsche Streamingangebot ist. Aber wir müssen auch hier Inhalt und Technologie zusammendenken. Sicher brauchen wir noch mehr Produkte für Online first. Aber insbesondere bei der Technologie haben wir noch einiges zu leisten, etwa hinsichtlich der Empfehlungsmechanismen. In diesem Punkt unterscheiden wir uns übrigens von unseren privaten Konkurrenten: Netflix oder Amazon wollen uns möglichst viel vom Gleichen liefern, während wir Öffentlich-Rechtliche den Anspruch haben müssen, die Blase nicht zu verstärken, sondern sie zu durchstechen und zu verbinden. Wir wollen daher nicht nur das menschliche Grundbedürfnis nach Wiederholung, sondern auch nach Überraschung und Neugierde befriedigen.

Welche Bedeutung messen Sie dem linearen Programm heute noch bei?

Wir haben unsere Strategie verändert und priorisieren heute anders: In der Zeit zwischen 16 und 20 Uhr, in der die Menschen vorwiegend regionale Information suchen, richten wir unsere Formate weiterhin an die Nutzungsbedürfnisse im Linearen aus. Ab 20:15 Uhr ist das Kernprinzip: "Mediathek first". Die Produkte, die in dieser Zeitschiene linear ausgestrahlt werden, wurden in erster Linie als Mediatheksformate produziert. So haben wir beispielsweise journalistische Magazine wie "defacto" in monothematische Dokumentationen umgewandelt. Das war nicht einfach, aber inzwischen stellen wir fest, dass wir nicht nur im Non-Linearen davon profitieren, sondern wir auch im Fernsehen wieder Marktanteile hinzugewinnen. Dabei ist das gar nicht mehr eines unserer Kernziele.

Sie wollen keine Marktanteile dazugewinnen?

Als ich Programmdirektor war, ist es gelungen, den Marktanteil des HR Fernsehens von etwas mehr als fünf auf sieben Prozent zu steigern. Der Erfolg war aber nicht darauf zurückzuführen, dass wir neue Zielgruppen erreicht haben. Das muss man selbstkritisch sagen. Vielmehr haben wir diejenigen, die unser Programm nur gelegentlich gesehen haben, zu regelmäßigen Nutzern gemacht und regelmäßige Nutzer dazu gebracht, länger im Programm zu bleiben. Heute haben wir stattdessen mehr denn je den Anspruch, ein Angebot für alle Menschen n Hessen zu machen – im Zweifel auch auf Kosten des Marktanteils. Wir müssen deshalb in der Breite hinzugewinnen.

An welchen Stellen muss Ihrer Meinung nach künftig weniger gemacht werden?

Loslassen ist eines der größten Probleme. Dennoch haben wir die Prioritäten verändert und einige Formate, die über viele Jahre hinweg mit großem Erfolg liefen, eingestellt – etwa das "Hessenquiz". In der aktuellen Beitragsperiode gibt die ARD außerdem weniger Geld für Sportrechte aus. All das ist nötig, weil es auf Dauer nicht reichen wird, nur vereinzelt umzuschichten. Wenn wir möglichst alle in der Gesellschaft erreichen wollen, braucht es sehr viele zielgruppenspezifische Inhalte. Und das ist ein extrem großer Aufwand.

Wenn man Sie über die Zukunft reden hört, kann man sich gar nicht so recht vorstellen, dass es eine Zeit geben wird, in der Sie nicht mehr aktiv am Tagesgeschäft teilnehmen werden. Wie schwer fällt das persönliche Loslassen?

Ich kann nicht halbgar. Deshalb werde ich bis zu meinem letzten Arbeitstag so arbeiten, wie ich 38 Jahre lang gearbeitet habe. Im digitalen Wandel ist der Medienbereich das Auge des Orkans, und dort ein bisschen Einfluss zu nehmen, ist etwas Tolles. Trotzdem freue ich mich auf die Phase danach, weil ich auf vieles habe verzichten müssen. Neben meiner Familie war 38 Jahre lang der HR die Nummer eins in meinem Leben und hat mein Leben zeitlich absolut dominiert. Nun muss ich mich teilweise neu definieren und mir die Frage stellen: Was bedeutet eigentlich Manfred Krupp minus HR minus ARD? Aber ich bin mir sicher: Es gab ein Leben vor dem HR und es wird ein Leben nach dem HR geben, auch wenn es mir manchmal schwerfällt, mir das vorzustellen. Eines ist klar: Die Leidenschaft fürs Öffentlich-Rechtliche wird nicht nachlassen, aber ich werde mit Sicherheit anderen keine Ratschläge geben.

Was werden Sie denn vermissen – und was nicht?

Ich werde es ganz sicher nicht vermissen, Protokolle zu redigieren oder in so manch langem Meeting zu sitzen. Was ich vermissen werde, ist die Zusammenarbeit mit kreativen Menschen, die mitunter akzeptiert haben, dass meine größte Stärke die Summe meiner Schwächen ist. Es war wunderbar, in einem Sender zu arbeiten, der so groß ist, dass er eine riesige Bandbreite bietet, dabei aber so klein, dass sich man über Redaktions- und Direktionsgrenzen kennenlernen und voneinander lernen kann. Aus diesem Grund wird mir der Abschied ganz bestimmt nicht leichtfallen.

Herr Krupp, vielen Dank für das Gespräch.