Frau Burkhardt, genau wie Ihr Vorgänger Florian Hager haben Sie eine Vergangenheit bei funk. Kann in der Vita offensichtlich nicht schaden, wenn man Channel-Managerin für die ARD.Mediathek werden will, oder? 

Wir haben bei funk zielgruppenspezifisches Denken und Produzieren gelernt. Wie wir auf die Lebenswelten unserer Zielgruppe treffen, war immer Teil unserer Planungen. Genau das kann und muss man in die Streamingwelt mitnehmen. funk war also eine gute Vorbereitung auf den fragmentierten, digitalen Markt. Auch neue Dinge auszuprobieren, zu messen und weiter zu optimieren, hat unsere Kultur bei funk stark geprägt. Dazu kommt: Durch meine Tätigkeit bei funk kenne ich viele ARD-Akteure schon, schließlich arbeitet man auch dort mit allen Landesrundfunkanstalten der ARD zusammen und lernt die unterschiedlichen Kulturen kennen.

Hat sich die Kultur in der ARD denn in den vergangenen fünf Jahren verändert?

Ich glaube schon. Die Zahlen der TV- und Bewegtbildnutzung sprechen eine deutliche Sprache. Das ist im Bewusstsein vieler mittlerweile angekommen. Ich erlebe da sehr viel Bewegung.

Sie übernehmen das Projekt des Mediatheken-Ausbaus in einer Phase, in der vieles noch nicht abgeschlossen ist. Kein einfacher Moment, um den Job zu übernehmen, oder?

Viele aktuelle Programme sind Samen, die schon vorher gesät wurden und jetzt wachsen. In der Erziehungswissenschaft gibt es diesen Spruch "Gärtnern statt Schreinern". Also: Nicht einfach ein Modell nachbauen, sondern einen Garten anlegen und dann viel pflegen. Unsere Arbeit ist so ähnlich. Die Grundlage für den Garten ist schon angelegt – jetzt kann ich weiter in die Gartenpflege einsteigen.

Bei der Gartenpflege ist aber auch immer Unkraut dabei. Wie überlegen sie, wo Sie mit dem Abschneiden ansetzen können?

Die Mediatheken erfüllen zwei Jobs: Zum einen gibt es die "Sendung verpasst?"-Welt, für all jene, die aus dem linearen Fernsehen kommen. Zum anderen die reine Streamingwelt. Viele Programme sind für die TV-Verwertung konzipiert. Da müssen wir also sortieren: Was ist für die Plattform Mediathek optimiert und hat eine Chance, jüngeres Publikum anzusprechen? Kann dieses Programm die Plattform prägen, ihr einen eigenen Charakter verleihen? Welche Formate haben eher die Funktion einer TV-Bibliothek, in der man das findet, was man linear verpasst hat? Diese mehrseitige Aufgabenbeschreibung einer Mediathek ist die Herausforderung. Das Ziel ist es, das für die Nutzer übersichtlich und transparent zu halten. Gerade in der vielschichtigen ARD.

 

"Sind die Programme behäbig, kann die Plattform noch so cool heißen."

 

Wie genau wollen Sie jüngere Menschen in die Mediathek locken? 

Es hilft sich anzusehen, an welchen Stellen junge Menschen die Mediathek bereits nutzen. Häufig ist das Event-getrieben: Da spielt Sport eine große Rolle, aber auch Rituale wie das wöchentliche "Tatort"-Schauen. Davon ausgehend müssen wir überlegen, wie wir es schaffen, dass sie treuere Nutzer werden. Wir merken aktuell beispielsweise, dass es ein großes Interesse an den Krisen der Welt und an glaubwürdiger Information gibt – das ist ein Nutzungsmotiv für die ARD Mediathek. Da überlegen wir uns, wie wir mit der Mediathek Themen vertiefen können. Mit der Dokumentation "F@ck this Job" über einen unabhängigen russischen Fernsehsender oder mit "Heimreise in den Krieg". In diesen Themen liegt unser Kernauftrag, dort merken wir, dass wir gesucht und gefunden werden. Vor diesem Hintergrund ist auch die neue "Tagesschau"-Themenwelt zu sehen, die wir gerade gestartet haben. Das ist der Event-bezogene Weg.

Und der andere?

Daneben muss über einzelne Inhalte geredet werden, die ziehen und im besten Fall auch binden. Bei Staffelserien gibt es manche, die Zielgruppen ansprechen, die wir im Fernsehen nicht erreichen. Im aktuellen Programm ist "Beforeigners" so ein Fall. Das lief im TV nicht besonders stark, in der ARD-Mediathek wird es jedoch millionenfach abgerufen. Im Juni wird die Serie "How to Dad" starten, in der es um Väter geht, die sich mit ihrem Erziehungskonzept und mit Rollenbildern auseinandersetzen. Dort bilden wir eine ganz eigene Lebensrealität ab. Die hohe Kunst ist es aber, zu einem regelmäßigen Begleiter, zum Teil des Alltags der Menschen zu werden. Mitunter muss man auch mal damit leben, dass etwas nicht gleich klappt.

How to Dad © ARD Degeto/Bernd Schuller Für die neue Serie "How to Dad" standen Vladimir Burlakow, Patrick Güldenberg, Helgi Schmid, Ugur Kaya und die Choreographin und Schauspielerin Nikeata Thompson vor der Kamera.

Wonach bemessen sie denn den Erfolg?

Da gibt es klare Muster, die sich herausgebildet haben. Das Zielvolumen, also wie viel Zeit Menschen mit den Inhalten verbringen, etabliert sich als überspannende Messgröße. Jeder hat 24 Stunden am Tag Zeit und ein gewisses Budget für Mediennutzung – da eine Rolle zu spielen, ist natürlich ein Ziel. Wir schauen aber auch darauf, wie wir bestimmte Altersgruppen erreichen, besonders die 20- bis 49-Jährigen.

Bei funk war die Erkenntnis da, sich zur Zielgruppe hin zu bewegen, also zu YouTube oder TikTok. Ist es da nicht ein Widerspruch, sie nun wieder zurück in die Mediathek holen zu wollen?

Die Entscheidung für diese Hyperdistribution bei funk ist auch gefallen, weil uns klar war, dass wir mit der Zielgruppe kaum Berührungspunkte hatten. Die Zielgruppe tauscht sich schnell aus und wechselt immer wieder die Plattformen. Auch neue Trends entwickeln sich sehr schnell. Uns wurde also bewusst: Wenn wir diese Zielgruppe auf eine andere Plattform holen wollen, bräuchten wir sehr viel Energie. Außerdem darf man nicht vergessen, dass funk eher klein ist. Mit dem Budget von funk ist eben nur eine bestimmte Anzahl von Formaten möglich. Wenn man zehn Formate für 14- bis 16-Jährige hat, lässt sich damit noch keine Plattform bewerben. Bei der ARD-Mediathek bringen wir dagegen ein ganz anderes Angebotsgewicht zusammen. So viele starke Inhalte einfach an Dritte zu verschenken, hielte ich für fahrlässig. Gleichzeitig ist die Drittplattform-Strategie natürlich verführerisch...

Wieso?

Man kann schnell große Reichweiten erzielen; das hat fast schon ein Spielautomaten-Gefühl: Man wirft oben ein Programm rein und YouTube spuckt, wenn man Glück hat, große Reichweiten aus. In der Mediathek braucht man einen längeren Atem. Dafür ist man mit einer eigenen Plattform aber langfristig unabhängig. Und das ist für mich ein Kernanliegen.

Wirkt der Name "ARD-Mediathek" eigentlich nicht etwas uncool im Vergleich zu Netflix, Prime Video & Co.?

Mit dem Coolness-Faktor bin ich vorsichtig, denn wir müssen uns überlegen, wie cool wir am Ende tatsächlich sind. Eine Plattform lebt vor allem von ihren Programmen. Wenn diese interessant und spannend sind, dann überträgt sich das auf das Image – egal wie die Plattform heißt. Sind die Programme behäbig, kann die Plattform noch so cool heißen, es bleibt dann ein Strohfeuer.

 

"Exklusivität ist wichtig, wenn man Bindung zu einer Plattform aufbauen möchte."

 

Bleiben wir beim Programm. Nach welchen Formaten und Genres suchen Sie für die Mediathek?

Der Schwerpunkt liegt auf Dokumentation, Fiktion und Unterhaltung, weil das auf dem Streaming-Markt in der Kernzielgruppe der 20- bis 49-Jährigen gut funktioniert. Darunter gibt es aber ganz unterschiedliche Bereiche, in denen wir nach Formaten suchen. Im Doku-Genre finde ich den Bereich des modernen politischen Erzählens sehr interessant. Es ist eine große Aufgabe, zu unserer komplexen Welt mit den vielen Zusammenhängen Orientierung zu schaffen. Auch das Thema Factual Entertainment ist noch nicht ganz ausgereizt, weshalb ich mich über spannende Konzepte freuen würde. 

Und in der Fiction?

Im Bereich Fiction sehen wir an den gut funktionierenden Lizenzen, wo unsere Lücken im deutschen Markt sind. Ich glaube, da können wir noch stärker diversifizieren und unterschiedliche Subgenres ausprobieren. Auch interessant: Co-Watching, also Inhalte, die Eltern mit ihren Kindern gemeinsam schauen können. Da ist die Frage: Wie erschafft man einen Moment, in dem verschiedene Generationen miteinander ins Gespräch kommen? Es tut uns in der Mediathek gut, viele solcher Farben zu haben, weil es neue Blickwinkel auf die Gesellschaft erzeugen kann. 

Verschiedene Generation schauen zusammen ein Format. Das erinnert an das klassische Lagerfeuer-Fernsehen. Ist so etwas auch in der Mediathek möglich?

Ich gehöre selbst zur Post-Lagerfeuer-Generation. (lacht) Deshalb fremdle ich immer mit diesem Lagerfeuerbild. Es wird sicherlich Formate geben, die verhältnismäßig viele Leute gucken, aber ich glaube, es lag auch an der damaligen Beschränkung des Angebots, dass einige Events in den 70ern und 80ern von jedem gesehen wurde. Mit Blick auf die Mediathek ist das nicht das Ziel, weil wir es mit einer zeitversetzten Dynamik zu tun haben. Wenn beispielsweise besonders viele Schülerinnen und Schüler in der Mediathek ein Programm schauen, fangen irgendwann später auch Lehrerinnen und Lehrer oder Eltern damit an, um zu erfahren was die Kinder dort gerade schauen – und finden es dann selbst gar nicht so schlecht. Damit hat man einen Gesprächsanker geschaffen, der zwischen Generationen stattfindet und deren Beziehung vertiefen kann. 

Manche ARD-Serien lassen sich auch anderswo ansehen, etwa bei Netflix oder Prime Video. Muss es nicht das Ziel sein, ARD-Marken nur bei der ARD zu finden?

Exklusivität ist wichtig, wenn man Bindung zu einer Plattform aufbauen möchte. Manchmal geht es auch um das Halten von Inhalten. Die Problematik erleben wir beim Erwerb von Lizenzen: Aus Nutzerperspektive ist es ein sehr unbefriedigendes Erlebnis, wenn man eine Serie schaut und auf einmal ist sie nicht mehr auf der Plattform. Ich glaube also schon, dass die beste Situation ist, ein Programm selbst zu halten. Es geht aber auch anders: Bei "Babylon Berlin" hat man zum Beispiel gesehen, dass es möglich ist, mit einer Beteiligung von mehreren Partnern eine viel größere Aufmerksamkeit zu generieren. Die Frage ist, wie viele hochwertige Programme man sich selbst leisten kann und wann man neue Wege gehen muss.

Gibt es eine Formel für die Veröffentlichung eines Formates in der ARD-Mediathek – also lieber Binge Watching oder wöchentlich eine neue Folge?

Das Thema Rhythmus beschäftigt mich sehr. Es kommt letztlich auf den Stoff an. Bei Staffelserien ist das Erlebnis, wenn man sie schaut, wie ein gemeinsamer Urlaub. Die Zeit ist sehr intensiv – dann ist sie aber auch wieder vorbei. Weekly- oder Daily-Stoffe sind eher Teil des Alltags. Entscheidend ist aber die die Erzählform, sodass wir mit beiden Formen experimentieren müssen. Davon abgesehen: Gerade in der Zielgruppe der 30- bis 49-Jährigen, wo wir es mit Leuten zu tun haben, die viel um die Ohren haben, sind auch Filme und Einzelstücke interessant, weil sie mit weniger Zeitaufwand verbunden sind.

Sie haben erst vor wenigen Wochen Ihren neuen Job angetreten. Was haben Sie sich für das erste halbe Jahr vorgenommen?

Auf meinem Tisch liegt derzeit das Thema der Portfoliosteuerung. Da wurde bereits viel angestoßen, aber ich möchte ein Gefühl für die verschiedenen Akteure bekommen. Denn am Ende ist die ARD immer eine Gemeinschaft. Auch ein wichtiger Punkt ist die Entwicklung von Möglichkeiten zur Evaluierung. Es wird viel Neues kommen – damit wir daraus lernen können, müssen wir Strukturen finden, wie wir bewerten können, was überhaupt ein Erfolg oder Misserfolg war. Wir müssen lernen, welche Formate wir häufiger bringen können, dürfen es aber auch nicht unter den Teppich kehren, wenn mal etwas nicht so gut bei unserem Publikum ankam. Stattdessen sollten wir ermitteln, was falsch lief und daraus produktiv lernen. Wir müssen eine gemeinsame Sprache finden, um über Programme zu sprechen. Über Erfolge, Strategien und Misserfolge.

Frau Burkhardt, vielen Dank für das Gespräch.