Frau Hempel, wann ist wahre Gleichberechtigung am Bildschirm erreicht – wenn Frauen unter 50 wie im ZDF-Zweiteiler „Süßer Rausch“ ätzend sein dürfen, wenn Frauen über 50 dort ätzend sein dürfen oder wenn es egal ist, wer welchen Geschlechts und Alters ätzend ist?

Heike Hempel: (lacht) Zunächst mal sind wir der Gleichberechtigung nähergekommen, wenn wir beide nicht mehr darüber sprechen müssen. Aber es kommt generell darauf an, Frauen jeden Alters, genauso wie die Männer, im gesamten Spektrum ihrer Möglichkeiten zu erzählen: alt oder jung, schön oder hässlich, dick oder dünn, reich oder arm, alles.

Das wäre qualitativ. Quantitativ hat eine Geschlechterstudie der Uni Rostock vor fünf Jahren herausgefunden, dass der Frauenanteil am Bildschirm über 50 bei 1:3 liegt.

Das stimmt, aber es gibt Fortschritte.

Ist „Süßer Rausch“, wo es ab diesen Sonntag 20.15 Uhr um sechs teils ältere, teils jüngere Frauen im Kampf gegen männliche Machtstrukturen geht, Ausdruck oder Ausgangspunkt dieser Veränderung?

Eher Ausdruck. Das ZDF hat eine lange Tradition selbstbewusster, sichtbarer Frauenfiguren, die schon mit Inge Meysel begonnen hat. Seither gab es von Thekla Carola Wied über Hannelore Hoger bis Senta Berger und Iris Berben wunderbare Darstellerinnen in der Tradition weiblicher Persönlichkeiten im Zentrum starker Geschichten. Von daher kann man nicht sagen, das Phänomen sei neuartig.

Wobei eine Inge Meysel bei aller Stärke noch den mütterlichen Typus Frauenfigur zwischen Ehe, Haushalt, Kindern verkörpert hatte…

Ich glaube, sie hat viel emanzipiertere, ambivalentere Rollen gespielt, als Ihre Erinnerung hergibt, aber abgesehen davon hat sie die Frage, ob Frauen im Fernsehen alt werden dürfen, bereits in den Achtzigern bejaht. Aber natürlich ist, bei allen Fortschritten, die seither gemacht wurden, auch bei uns noch Luft nach oben. Das müssen wir als Auftrag verstehen – und zwar auch im Hinblick darauf, wie wir Frauen erzählen, nicht nur wie viele.

Es geht also eher um Qualität als Quantität?

Es geht um beides: die gleichberechtigte Teilhabe von Frauen am Markt, hinter der Kamera und natürlich um die Qualität vor der Kamera– wie erzählen wir Frauenfiguren? Müssen Frauen echt alle jünger aussehen als sie sind? Das geht ja nicht nur mit Joghurt und Yoga. Hab‘ ich ausprobiert, klappt nicht… (lacht)

Aber wenn Sie sich dessen so bewusst sind, warum sind zumindest zwei der drei Frauen um die 60 in „Süßer Rausch“ attraktiv, schlank, elegant und sportlich, also doch wieder 20 Jahre jünger als das Gros ihrer Geschlechts- und Altersgenossinnen?

Dem würde ich widersprechen: Leslie Malton, Désirée Nosbusch und Suzanne von Borsody spielen Figuren, die so alt sind wie sie selbst. Sie sind nicht „jünger“ geschminkt. Man kann in ihren Gesichtern ihre Stärke aber auch die existenziellen Probleme, mit denen sich ihre Figuren herumschlagen, lesen. Das macht „Süßer Rausch“ für mich zu einem ehrlichen Film.    

Ging dieser Ehrlichkeit ein kultureller, gesamtgesellschaftlicher Wandel voraus oder sind mehr Frauen an den Schalthebeln der Film- und Fernsehmacht wichtiger?

Idealerweise geschieht beides parallel. Es gibt interessante Entwicklungen wie age diversity oder body positivity, die Schönheit und Körperlichkeit anders definieren. Trotzdem gilt in der Kosmetik- und Modeindustrie oder Social Media noch immer: Alt sein ist okay, alt aussehen nicht. Daran müssen wir arbeiten. Der Optimierungswahn hat im Übrigen nicht nur bei Frauen zugenommen, sondern auch bei Männern. Weil Fernsehfilme und Serien diesbezüglich bewusstseinsstiftend sind, haben wir da große Verantwortung – die wir auch wahrnehmen wollen.

Wodurch?

Indem wir dem Optimierungswahn nicht auch noch befeuern und ausschließlich vollberufstätige, superemanzipierte, multitaskingfähige, idealschöne, ewig junge Frauen zeigen, sondern das ganze Spektrum – bis hin zur vielgeschmähten Hausfrau. Und da ist es in der Tat wichtig, hinter der Kamera weiblicher zu werden. Denn was und wie wir erzählen, hat auch damit zu tun, wer produziert, schreibt, Regie führt. Unser Zahlencontrolling evaluiert einmal im Jahr, an wen unsere Aufträge eigentlich gehen und wie gemischt die Teams sind.

Und?

Wir machen gute Fortschritte, haben an einigen Stellen die Parität schon erreicht, aber auch noch Baustellen.

Damit wären wir auf der mittleren Führungsebene. Wie es mit der oberen in Funkhäusern und Produktionsfirmen? Was können Führungskräfte wie Sie bewirken?

Als Auftraggeberinnen, die Leitlinien setzen und Forderungen stellen, einiges. Aber es sollte nicht nur Aufgabe weiblicher Führungskräfte sein, Rollenbilder auf der Höhe der Zeit einzufordern, sondern auch die der Männer: Die Geschlechterfrage ist keine Frauensache.

Sie selbst sind bald 30 Jahre erst beim WDR, später beim ZDF in leitender Funktion. War Ihnen die Gleichberechtigung da immer ein Anliegen?

(überlegt lange) Jetzt könnte ich es mir leicht machen und „ja“ sagen, aber es war ein wenig komplizierter. Wie so viele Frauen meiner Generation bin ich seinerzeit im Bewusstsein angetreten, es gäbe eigentlich gar nicht mehr so wahnsinnig viel zu tun – sowohl für eigene als auch die Lebensentwürfe anderer Frauen.

Aber?

Als ich mit Anfang 30 Redaktionsleiterin beim ZDF wurde, kamen Produzenten zum Antrittsbesuch. Sie drückten mir Hut und Mantel in die Hand und sagten: gern eine Tasse Kaffee, bitte schwarz.

Das klingt jetzt fast zu klischeehaft, um wahr zu sein.

Ist aber so geschehen. Da können Sie sich vorstellen, wie die geguckt haben, als ich mich als ihre Auftraggeberin zu erkennen gegeben habe.

Ich hoffe, peinlich berührt!

Sehr sogar. Aber wie sollten sie damit auch rechnen? Ich war anfangs oft die einzige Frau im Meeting, wo es dann schon mal Kommentare wie jene gab, mit Zahlen müsse ich mich nicht beschäftigen, das würden andere besser können.

Im Zweifel Männer.

Diese Erfahrungen haben mein Bewusstsein geschärft und auch den Ehrgeiz geweckt, mehr Geschichten aus weiblicher Perspektive zu erzählen. Unsere „Ku’damm“-Reihe, die Annette Hess mit der Frage kreiert hat, wie es sich angefühlt haben mag, weiblich zu sein in Deutschland in den 50er-Jahren, ist ein Beispiel dafür. Mittlerweile haben wir übrigens im ZDF in den Führungsebenen die Parität erreicht. Es gibt viel mehr Frauen in allen Meetings, und das ist schön.

Kippt diese Parität womöglich so, dass auch mal ein Mann unter Frauen sitzt?

Das kann schon vorkommen, ja. Aber ich finde es persönlich am besten – und lustigsten –, wenn die Teams gemischt sind.

Sind Formate wie „Süßer Rausch“ oder „Neuland“ in ihrer jetzigen Form mit vielen – auch älteren – Frauen an vorderster Besetzungsfront erst heute möglich?

Nein, die Konstellationen wären auch damals möglich gewesen. Aber die Art und Weise, wie Sathyan Ramesh diese Frauen mit einer gewissen Unerbittlichkeit erzählt und Sabine Derflinger sie dann in Szene setzt, mit all ihrem Schmerz, dem Humor, das ist heute möglich. Aber es ist ja generell so, dass Fiktionen à jour sein sollten, also zeitgemäß.

Sind familiäre Dramen wie diese eigentlich besser für emanzipierte, gleichberechtigte Charakter- und Geschichtszeichnungen geeigneter als, sagen wir: Actionstoffe?

Nicht grundsätzlich, aber im scheinbar Privaten hat sich in den vergangenen, sagen wir: zwei Jahrzehnten so viel verändert. Da die Überforderungen und Verwirrungen der Zuschauer*innen groß sind, eignet sich die Familie als fiktionaler Schauplatz besonders. Hier ist auch unsere Miniserie „Neuland“ ein gutes Beispiel, in der es Ende Dezember um die Überforderung von Eltern im bürgerlichen Milieu geht und um die Hilflosigkeit ihren Kindern gegenüber.

Was ist abseits so moderner Stoffe beharrlicher: die Misogynie genannte Geschlechterdiskriminierung, Frauen weniger als Männern zuzutrauen, oder die Ageism genannte Altersdiskriminierung, Jüngeren mehr zuzutrauen als Älteren?

Oh, oh.

Ohne beide gegeneinander in Stellung zu bringen…

Wollte ich grad sagen… Beides ist beharrlich, weshalb wir uns bemühen, Frauenfiguren immer mit einer klaren Kernkompetenz zu erzählen. Ein Beispiel: Simone Thomalla in „Frühling“, eine unserer erfolgreichsten Herzkino-Reihen, spielt dort eine Dorfhelferin, bei der ich mich darauf verlassen kann, dass sie den Fall löst und der Familie helfen wird. Kompetenz schafft Vertrauen. Das gilt, egal ob wir Hausmänner oder Pilotinnen erzählen. 

Vertrauen Sie selbst einer Pilotin denn genauso wie einem Piloten?

Ja, und einer Ärztin wie einem Arzt. Hoffe ich zumindest; das Unterbewusstsein überlistet uns ja gern. Deshalb ist es wesentlich, die Zuschauer*innen nicht nur sachlich, sondern emotional zu erreichen: Es sind Geschichten, die Einstellungen der Menschen prägen. Und das ist unsere Aufgabe.

Frau Hempel, herzlichen Dank für das Gespräch

Das ZDF zeigt "Süßer Rausch" am Sonntag, 16. Oktober und Montag, 17. Oktober jeweils um 20:15 Uhr. In der ZDF-Mediathek sind beide Teile bereits abrufbar.