Frau Ignatiew, fast überall wird derzeit das Entwicklungs- und Produktionstempo für neue Serien gedrosselt, weil Studios und Plattformen sparen. Nicht gerade der beste Zeitpunkt für den Aufbau einer neuen Fiction-Firma.

Bei realistischer Betrachtung der Märkte muss man tatsächlich konstatieren, dass die Rahmenbedingungen schon positiver waren. Für uns ist das aber nur eine Momentaufnahme, denn Fiction ist sowohl in Deutschland als auch international nach wie vor sehr gefragt. Wir glauben weiterhin an die Strahlkraft von Fiction, auch wenn sich der Markt gerade etwas beruhigt. Banal aber wahr: Gute Geschichten werden immer gebraucht und Qualität setzt sich durch. Der Vorteil am jetzigen Gründungszeitpunkt ist doch, dass wir uns die nötige Zeit zur Stoffentwicklung nehmen können und nicht den unmittelbaren Druck spüren. Dafür haben wir die volle Unterstützung sowohl von All3Media Deutschland als auch vom Headquarter in London.

In welche Richtungen entwickeln Sie?

Wir wollen deutsche Geschichten mit lokaler DNA erzählen, sowohl seriell als auch filmisch. Ich persönlich mag es besonders, Popcorn-Entertainment-Stoffe zu entwickeln, die trotzdem eine gewisse gesellschaftliche Relevanz haben. Wenn ich mir die gegenwärtigen Marktbedürfnisse anschaue, ist das meiner Meinung nach eine sehr gute Ausrichtung. Etwa drei Viertel unserer Projekte werden deutsche Eigenentwicklungen sein – mit dem Bewusstsein, dass sie möglichst auch international funktionieren sollen. Das restliche Viertel setzt sich aus Formatadaptionen und internationalen Koproduktionen zusammen. Im Katalog von All3Media International haben wir großartiges Potenzial. Und ich habe große Lust auf die Zusammenarbeit mit unseren britischen und internationalen Fiction-Kolleginnen und -Kollegen.

Im britischen Markt ist Fiction innerhalb des All3Media-Portfolios deutlich stärker gewichtet als bisher in Deutschland.

Genau das ist unser Ansatz. Und dieses Potenzial wollen wir nutzen und weiter ausbauen. Ich durfte Taco Rijssemus und das Team im Fiction-Bereich ja schon etwas länger beraten, und wir haben gemeinsam festgestellt, dass die bestehende Marke Filmpool Fiction in einem sehr klaren Segment hervorragend positioniert ist. Mit den "Tatort"- und "Polizeiruf 110"-Produktionen und der "Kommissar Dupin"-Reihe gibt es dort auch 2023 wieder ein starkes Line-up. Insofern lag es nahe, dieses Label zu stärken und mit All3Media Fiction eine neue Marke aufzubauen, die komplementär für anderes Programm stehen soll: für die Streamer und private Anbieter, aber natürlich auch für die Öffentlich-Rechtlichen. Sie sind nach wie vor die größten Auftraggeber für Fiction im deutschsprachigen Raum. Mit All3Media Fiction wollen wir vorhandene Potenziale noch besser nutzen, neue Möglichkeiten schaffen und so künftig unseren Partnern eine noch größere Vielfalt an Projekten anbieten.

Jochen Wigand, Julia Jaensch © All3Media Fiction Neu bei All3Media Fiction: Jochen Wigand kommt von Tower Productions, Julia Jaensch von Sky Studios

Mit der Beförderung von Mathias Lösel zum weiteren Geschäftsführer der Filmpool Fiction und Executive Producer der All3Media Fiction haben Sie im Dezember Ihre erste Personalie gesetzt. Wie geht es im neuen Jahr personell weiter?

Wir verstärken uns mit zwei hervorragenden Senior Creative Producern. Ich freue mich sehr, dass wir Julia Jaensch gewinnen konnten, die soeben als Director Drama bei uns angefangen hat. Sie hat zuletzt als Executive Producerin bei Sky Studios die dritte und vierte Staffel von "Das Boot" sowie "Munich Games" und "Wirecard – Die Milliarden-Lüge" betreut. Zum 1. Februar kommt Jochen Wigand als Head of Comedy & Young Adults. Er war zuletzt Producer bei unserer Schwesterfirma Tower Productions und hat dort zuletzt als Showrunner die britische Sitcom "Him & Her" unter dem Titel "Ich dich auch!" für ZDFneo adaptiert. Die zweite Staffel hat er gerade abgedreht. Ergänzt wird das Team durch Gülin Küllü, Absolventin der ifs Köln, die für uns als Autorin verschiedene Projekte entwickelt. Dazu haben wir mit Bernd Strack einen erfahrenen Dramaturgen und Autor als Development Executive gewinnen können und einen exklusiven First-Look-Deal mit Erfolgsautor Markus Stromiedel geschlossen. Die Gesamt-Herstellungsleitung bei der All3Media Fiction übernimmt über alle Labels hinweg Jeff Budd, der diesen Bereich bereits seit 2014 bei Filmpool Fiction erfolgreich leitet.

Ihr Kollege Vittorio Valente, Geschäftsführer der All3Media-Töchter Filmpool Entertainment und The Fiction Syndicate, hat im Dezember im DWDL.de-Interview einen Ausbau der klassischen Fiction bei TFS angekündigt. Das fällt – anders als Filmpool Fiction – nicht in Ihren Verantwortungsbereich?

Nein. The Fiction Syndicate hat eine andere Gesellschafterstruktur [50,1 Prozent All3Media, 49,9 Prozent Vittorio Valente, Anm. d. Red.] und agiert auch weiterhin eigenständig. Mit dem Launch von All3Media Fiction war es uns wichtig, die Fiction-Aktivitäten von All3Media zu stärken und weiter zu intensivieren und dafür eine operative Marke aufzubauen. Darüber hinaus sind wir alle eine große All3Media-Familie und arbeiten ohnehin eng zusammen, Vito und ich tauschen uns natürlich regelmäßig aus.

 

Akquisitionen stehen nicht im Fokus. So viele unabhängige und interessante Firmen sind auch nicht mehr auf dem Markt, dafür hat die Konsolidierung der letzten Jahre schon gesorgt
Irina Ignatiew-Lemke, Geschäftsführerin, All3Media Deutschland Fiction

 

Können Sie uns schon einen ersten Ausblick auf Ihre Projekte geben?

Im Sommer drehen wir die Miniserie "Der Informant" für NDR, ARD Degeto und Arte, die Iris Kiefer mit Filmpool Fiction schon vor Gründung der All3Media Fiction auf den Weg gebracht hatte. Das ist ein Remake der britischen Serie "Informer", ursprünglich von Neal Street Productions für die BBC realisiert, mit Jürgen Vogel, Elisa Schlott und Edin Hasanovic in den Hauptrollen. Es geht um Themen wie Identität und Zugehörigkeit, aber auch Hysterie und Alarmismus. Regie führt Matthias Glasner, der auch die Drehbücher adaptiert hat.

Bei der All3Media Fiction dauert es vermutlich noch etwas länger, ehe Sie drehen?

Richtig. Wir entwickeln beispielsweise mit Katharina Bischof, Robert von Münchhofen und Bernd Strack eine Comedy-Serie namens "Rebellen". Darin wollen wir einen Culture Clash im Seniorenheim erzählen, bei dem die "Fridays for Future"-Generation auf die Alt-68er-Generation trifft. Ein anderes Serienprojekt hatte ich schon vor meinem Eintritt in die All3Media gemeinsam mit Markus Stromiedel begonnen zu entwickeln – nämlich einen Near-Future-Popcorn-Thriller mit dem Arbeitstitel "Welt aus Glas", in dem es vornehmlich um die Suche nach Identität und Wahrheit in einer von virtuellen Welten geprägten Zukunft geht. Das ist eine ziemlich große und ambitionierte Storyworld, die wir jetzt zusammen mit einer unserer britischen Schwesterfirmen in einem international besetzten Writers' Room vorantreiben wollen.

Es dürfte im Sinne Ihrer Vertriebskollegen bei All3Media International sein, internationale Koproduktionen mit mehreren Partnern aufzusetzen und globale Buyouts an eine einzige Plattform möglichst zu vermeiden.

Wir werden uns jedes einzelne Projekt ergebnisoffen ansehen. Am Ende dürfte es auf eine Mischkalkulation hinauslaufen: Mal hat man viele Partner in verschiedenen Ländern, mal einen einzigen Auftraggeber. Ich glaube, dass auch die großen Streamer heute offener für Koproduktionen sind als noch vor ein paar Jahren. Wir wollen uns so breit aufstellen, dass wir bei allen sinnvollen Produktionsmodellen mitmischen können.

Wollen Sie auch im deutschen Markt mit Akquisitionen zum Treiber der Konsolidierung werden?

Vor allem wollen wir in Zukunft die kreative Herzkammer für talentierte Autorinnen und Autoren, Regisseurinnen und Regisseure und Produzentinnen und Produzenten sein und ihnen die Möglichkeit geben, Teil unserer Brand zu werden. Akquisitionen stehen hier nicht im Fokus. So viele unabhängige und interessante Firmen sind auch nicht mehr auf dem Markt, dafür hat die Konsolidierung der letzten Jahre schon gesorgt. Wir werden gezielt schauen, mit welchen Talenten wir in welcher Konstellation zusammenarbeiten wollen.

Frau Ignatiew, herzlichen Dank für das Gespräch.

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