Herr Wulf, Sie sind seit über 30 Jahren bei RTL tätig. Wie schwer oder vielleicht auch wie leicht wird Ihnen der Wechsel in den Ruhestand fallen?

Michael Wulf: Der nahende Ruhestand ist ein Prozess, mit dem ich mich auseinandersetzen muss, denn ich bin ein Mensch, der auch in Zukunft arbeiten möchte – wenn auch sicher nicht mehr 60 oder gar 65 Stunden in der Woche, wie das bisher häufig der Fall gewesen ist. Aus diesem Grund bin ich RTL sehr dankbar, dass man mir die Möglichkeit gibt, diese Dosis allmählich zurückzufahren, indem Stephanie McClain bereits im Laufe des kommenden Jahres meine Nachfolge als Chefredakteurin Primetime bei RTL News antreten wird, ich aber bis 2025 noch als Berater und für Sonderprojekte an Bord bleiben werde.

Wieso dieser zweigeteilte Schritt?

Wulf: Die Primetime ist ein Bereich, der viele unterschiedliche Formate umfasst. Stephanie ist aktuell für eine Sendung davon, nämlich "stern TV am Sonntag", verantwortlich. Wir haben aber jährlich 50 bis 60 Produktionen, darunter im kommenden Jahr mindestens 15 Produktionen für Sendeplätze um 20:15 Uhr – von Günter Wallraff über Factual-Formate bis hin zu Dokumentationen. Wir nutzen deshalb die Zeit, den Wechsel ordentlich vorzubereiten. Aktuell planen wir die Übergabe der Redaktionsleitung von "stern TV am Sonntag", wofür wir nun eine Nachfolge für Stephanie suchen. Danach werden wir sechs Monate lang zusammenarbeiten, ehe ich die Chefredaktion verlassen und noch eine Zeit lang im Background als Ansprechpartner dienen werde.

Mit welchem Gefühl gehen Sie an diese Aufgabe heran, Frau McClain?

Stephanie McClain: Für mich war Michael immer eine Legende, deshalb habe ich eine riesige Hochachtung davor, seine Nachfolge anzutreten. Als wir uns kennengelernt haben, war mir klar, dass wir journalistisch ähnlich ticken – und glücklicherweise konnten wir in den letzten anderthalb Jahren die Zusammenarbeit in der Praxis erproben. Umso mehr freue ich mich jetzt über das Riesenvertrauen, das Michael und die RTL-News-Geschäftsführung mir entgegenbringen. Das ist eine herausfordernde Aufgabe, die man nicht unterschätzen darf.

Der Anteil an Reportagen und Magazinen, die RTL in der Primetime ausstrahlt, ist in den zurückliegenden Jahren spürbar gestiegen. Worauf führen Sie das zurück?

Wulf: Sendungen, die sich mit aktuellen Themen beschäftigen, nehmen einen größeren Raum im linearen Fernsehen ein als noch vor fünf oder zehn Jahren – auch, weil fiktionale Produktionen zunehmend ins Streaming wandern. Seit Stephan Schmitter da ist, haben wir bei RTL eine Informationsoffensive gestartet. Nicht umsonst gibt es inzwischen eine eigene Primetime-Redaktion, weil die Bedeutung journalistischer Formate am Abend zunimmt. Allein die Tatsache, mit "stern TV am Sonntag" ein zusätzliches Talk-Format ins Programm zu nehmen, stellte eine gewisse Revolution für uns dar, die zunehmend erfolgreich ist.

 

"Magazine haben einen großen Vorteil: Sie können sie immer wieder an die Aktualität, aber auch an die Bedürfnisse der Menschen anpassen."
Michael Wulf

 

Was müssen Magazin oder Reportagen mitbringen, um auch um 20:15 Uhr bestehen zu können?

McClain: 20:15 Uhr war schon immer ein harter Kampf. Wenn man mit Magazinen oder Reportagen um diese Uhrzeit antritt, dann muss man hochgradig relevant sein. Das ist vermutlich auch der Grund, weshalb sich das nicht allzu viele Sender trauen. 

Wulf: Qualität spielt eine ganz große Rolle. Wer sich abends eine Informationssendung ansieht, der erwartet etwas Besonderes. Während der Corona-Zeit haben wir für einen "Extra"-Beitrag eigens ein Flugzeug gemietet, um die Gefahr der Ansteckung während eines Fluges darstellen zu können. In einer täglichen Sendung ist so etwas eher nicht vorstellbar, weil die Kosten in keinem Verhältnis stehen. Gleichzeitig ist es wichtiger denn je, sich mit den Bedürfnissen der Menschen auseinanderzusetzen. Gerade erst haben wir mit "Gecheckt" ein Format ausprobiert, das sich mit den Lebenshaltungskosten befasst. Aktuell funktioniert die Mischung aus Service mit Experimenten und Mehrwert in der Primetime sehr gut. 

Neben "Gecheckt" haben Sie vor wenigen Monaten unter dem Titel "Durchleuchtet" ein Bahn-Special mit Peter Kloeppel und Thorsten Schorn in der Primetime gesendet. Wie steht es um die Zukunft dieser beiden Formate?

Wulf: Bei "Durchleuchtet" geht es darum, komplexe Themen, die die Menschen täglich beschäftigen, nachvollziehbar darzustellen. In der ersten Folge haben wir versucht ausführlich zu erklären, wieso es bei der Bahn nicht läuft. Das hat ebenso wie "Gecheckt" gut funktioniert. Daher werden wir beide Formate fortsetzen. 

Die traditionellen Medien, auch das Fernsehen, stehen gleichermaßen unter Druck wie auch unter Beobachtung, wie auch RTL erst vor wenigen Tagen wieder erfahren musste. Wie nehmen Sie die aktuelle Situation wahr?

McClain: Ich persönlich habe eine lange "stern TV"-Geschichte und es war zu jeder Zeit unser Bestreben, das Publikum seriös zu informieren. Das geht aber nur dann, wenn man sich bewusst macht, welche Verantwortung man dem Publikum gegenüber hat – auch wenn es sich nicht vollends verhindern lässt, dass auch wir Fehler machen. 

  • Zur Person

    Stephanie McClain ist stellvertretende Chefredakteurin Primetime im Bereich "Reportage, Dokumentation & Investigativ". Sie wechselte im April 2022 zu RTL News und übernahm die Redaktionsleitung von "stern TV am Sonntag". Für McClain war es eine Rückkehr zur Marke "stern TV": Bereits von 2001 bis 2010 war die Journalistin in verschiedenen Funktionen für das Format tätig. Von 2010 bis 2012 war sie zudem unter anderem Chefin vom Dienst beim ARD-Talk "Günther Jauch". Von 2014 bis 2022 arbeitete sie als Executive Producer bei der Seven.One Entertainment Group.

Wulf: Langfristig wird man nur mit Qualitätsjournalismus, starken Marken und vertrauten Gesichtern beim Publikum durchdringen können. Gerade Kontinuität ist ein entscheidendes Merkmal. Nicht umsonst ist Peter Kloeppel heute der erfolgreichste News-Anchor im deutschen Fernsehen. Natürlich haben wir eine Haltung zu den Themen, aber es ging uns nie darum, dem Publikum eine Meinung aufzuzwingen. Das ist auch der Grund, weshalb wir bei "RTL aktuell" keine Kommentare gemacht haben. 

Was hat Sie persönlich 1989 zu RTL geführt?

Wulf: Ich hatte das große Glück, während meines Volontariats bei der "Bild"-Zeitung ein Praktikum bei RTL in Luxemburg zu machen. Da hat mir das Fernsehen so gut gefallen, dass ich nach einem weiteren Jahr bei "Bild" noch einmal bei RTL angeklopft habe – und bis heute geblieben bin. 

Gab es rückblickend so etwas wie eine "beste Zeit"?

Wulf: Ich habe im Januar 1989 angefangen und stand im November in Berlin, als die Mauer fiel. Das ist eines der größten Ereignisse, die es für einen Journalisten gab. Später sind Peter Kloeppel und ich sehr viel gereist, haben aus Hongkong gesendet oder über 9/11 berichtet. Rückblickend waren vor allem 1995 bis 2010 die spannenden Jahre für das Privatfernsehen, weil wir in dieser Zeit sehr viel ausprobieren und dabei auch an Profil gewinnen konnten. 

War der 11. September 2001 für die Nachrichten von RTL eine Art Wendepunkt?

Wulf: An diesem Tag haben Peter Kloeppel und ich die Sendung zusammen 'gefahren' - er vor der Kamera, ich in seinem Ohr. Peters großer Vorteil war sein Wissen über Amerika, weil er dort als Korrespondent arbeitete und seine Frau Amerikanerin ist. Dazu kam sein großes Talent, die Ruhe zu bewahren, denn für viele Zuschauerinnen und Zuschauer war es das erste Mal, dass sie ein derartiges Ereignis, bei dem viele Menschen starben, live vor dem Fernseher miterlebt haben. In diesem Moment wurde plötzlich vielen bewusst, dass es neben den Öffentlich-Rechtlichen noch einen anderen großen Sender gibt, auf den man sich in derartigen Situationen verlassen kann.

Von der Vergangenheit zurück ins Hier und Jetzt. Als Primetime-Chefredakteur sind Sie auch für Magazine wie "Extra" oder "stern TV" verantwortlich. Wie zeitgemäß sind Magazin-Formate eigentlich noch?

Wulf: Magazine haben einen großen Vorteil: Sie können sie immer wieder an die Aktualität, aber auch an die Bedürfnisse der Menschen anpassen. Ich weiß gar nicht mehr, wie oft wir "Explosiv" oder "Punkt 12" neu erfunden haben. Das kann man mit einem Magazin mehr noch als mit einer Nachrichtensendung, weil man in der Gestaltung viel freier ist. Und wenn ich mir ansehe, dass "Punkt 12" selbst als dreistündiges Magazin noch immer bis zu 15 Prozent Marktanteil erzielt, dann besitzt das auch im Jahr 2023 noch einen wahnsinnigen Wert. Klar ist aber auch, dass man sich in der digitalen Welt anders aufstellen muss, weil dort eher der einzelne Beitrag angesehen wird. Sich auf diese Veränderung einzustellen, wird die große Aufgabe für die Zukunft sein.

Also auch Ihre künftige Aufgabe, Frau McClain.

McClain: Wir sind uns alle sicher, dass das Bedürfnis an gesicherter Qualitätsinformation, aber auch an guten Marken in irgendeiner Form bestehen bleiben wird. Tatsächlich gibt es heute noch keine Magazin-Marke, die in Mediatheken etabliert ist. Aber solche Marken wird es geben müssen. Insofern liegt eine spannende Reise vor uns, bei der wir gewiss viel ausprobieren werden.

Frau McClain, Herr Wulf, vielen Dank für das Gespräch.