Ein Trojanisches Pferd sieht bekanntlich harmlos aus, funktioniert als perfekte Tarnung und entpuppt sich – wenn man es einmal an sich herangelassen hat – als unerwartet heftige Wucht. In diesem Sinne ist "London Spy" ein modernes trojanisches TV-Pferd. Welch ein genialer Schachzug, seine Serie so zu betiteln, während Europas Fernsehmacher von "The Night Manager" über "Deutschland 83" bis zu "Le Bureau des Légendes" Spionagegeschichten noch und nöcher erzählen – dann aber keinen weiteren Agententhriller, sondern ein intensives, vielschichtiges Beziehungsdrama hinter dem vermeintlichen Trend zu verbergen.

Man muss vor dem Konsum von "London Spy" eindringlich warnen. Wer actiongeladene Wettkämpfe mit Terrorzellen oder kalten Kriegern erwartet, wird nicht nur enttäuscht. Er riskiert auch, in ungewohnter Gefühlstiefe berührt und in Teilen seines Weltbildes erschüttert zu werden. Dass das alles von Ben Whishaw – dem Ausrüstungs-Mastermind Q in James Bonds Diensten – getragen wird, darf als Teil der genial-infamen Tarnung gelten.

 

Whishaw, einer der begabtesten britischen Schauspieler seiner Generation, spielt Danny – so ungefähr die einzige Hauptfigur in "London Spy", die mit dem Secret Service zuvor noch nicht in Berührung war. Dieser Danny ist ein lebenshungriger Hedonist in Reinkultur, dabei zugleich ein argloser Romantiker. Beim Joggen an der Themse, unweit vom ikonischen MI6-Gebäude, trifft er eines Morgens auf Alex (Edward Holcroft). Es ist Liebe auf den ersten Blick zwischen den beiden jungen Männern. Hier gilt: Gegensätze ziehen sich an. Denn Alex, offiziell ein hochrangiger Bankangestellter, ist menschenscheu und enigmatisch.

Nach einigen Monaten der Beziehung – als klar ist, dass Danny und Alex sich gegenseitig gut tun und dass es etwas Ernsthaftes ist – verschwindet Alex plötzlich spurlos. Bis Danny seine Leiche findet. Für die Polizei ist der Fall schnell klar: Einschlägige Folterwerkzeuge auf dem Dachboden legen einen tragischen Unfall beim Extrem-Sex nahe. Nur Danny weiß, dass diese These nicht stimmen kann. Die Ausrüstung auf Alex' Dachboden hatte er zuvor kein einziges Mal gesehen.

Angetrieben von Verlust und Kränkung, macht Danny sich auf die Suche nach der Wahrheit und findet heraus, dass er seinen Freund kaum wirklich kannte. Alex stand als Agent in Diensten des Secret Service. Danny will nicht aufgeben, bis er weiß, warum Alex sterben musste. Naiv, unerfahren und der Welt der Spionage in keinster Weise gewachsen, gerät er in einen gefährlichen Strudel hinein. Dabei begegnen ihm ebenso faszinierende wie mysteriöse Figuren, etwa sein väterlicher Freund Scottie (Jim Broadbent), der urplötzlich auch eine Geheimdienst-Vergangenheit zu beichten hat, oder Alex' Mutter Frances Turner (Charlotte Rampling), die an Stelle von erwartbarer Trauer ihre ganz eigene manipulative Agenda offenbart.

Jedes weitere Handlungsdetail würde dem Sehvergnügen zu viel vorwegnehmen. Grundsätzlich sollte man sich Dannys verzweifelte Wahrheitssuche nicht als crime-typische Ermittlung vorstellen. Vielmehr geht es hier um Verarbeitung und um Selbsterfahrung. Der fünfteiligen Miniserie – geschrieben von Tom Rob Smith ("Child 44"), inszeniert von Jakob Verbruggen ("House of Cards", "The Bridge") und produziert von Guy Heeley ("Redemption") – gelingt eine seltene Mischung: Einerseits wird der Zuschauer, der sich auf den bisweilen spröden Erzählrhythmus einlässt, belohnt von einer Art unentrinnbarem emotionalem Sog. Andererseits erhält er wohl dosierte, wirkungsvolle Denkanstöße zu gesellschaftlichen Fragen.

Beides in einem vereint eine der berührendsten Szenen der ganzen Serie: Zu Beginn der zweiten Folge legt Scottie vor Danny ein umfassendes Geständnis seiner früheren Agententätigkeit ab, die er aufgeben musste, weil er wegen seiner Homosexualität als erpressbar galt. Nicht nur sieht Danny seinen langjährigen väterlichen Freund, von dessen Vergangenheit er nichts wusste, fortan mit anderen Augen. Gleichzeitig steht die Frage im Raum, ob heute – Jahrzehnte später – der gleiche Umstand zu Alex' Tod führte. Die Geheimdienstwelt wird zum zugespitzten Abbild der Gesellschaft und ihres Umgangs mit Minderheiten.

Zur Ironie des Schicksals gehört, dass Ben Whishaw das Ende 2015 bei BBC Two und Anfang 2016 bei BBC America ausgestrahlte "London Spy" parallel zum letzten James-Bond-Film "Spectre" gedreht hat. Immer wieder mussten die Serienmacher ihre Drehpläne an jene des Agenten-Blockbusters anpassen, damit Whishaw rechtzeitig von Set zu Set reisen konnte. Die Mühe hat sich gelohnt.

"London Spy" ist im englischen Original und in deutscher Synchronisation bei Netflix verfügbar.