Und Größe zählt doch. Gut, nicht per se natürlich. Mikroskopische Organismen sind ja oft die gefährlichsten. Und nicht nur Nanotechniker wissen, dass die Welt am Ende bloß die Summe kleinster Teilchen ist. Wer der TeleVisionale vorigen Montag von Baden-Baden nach Weimar folgte, wird dem alten Austragungsort daher schon räumlich kaum nachtrauern. Das alte Fernsehfilmfestival hatte sein Publikum 36 Jahre lang auf engstem Raum eines glamourösen, aber strukturschwachen Kurhauses eingepfercht. Jetzt aber findet es ist es in der Thüringer Kulturmetropole statt, die trotz und wegen ihrer bewegten Geschichte passender erscheint als die barocke Residenzstadt.

Seit Urs Spörri mit Daniela Ginten 2022 die Festivalleitung übernommen hat, geht es schließlich auch ums neue Kino Fernsehserie. Und das erfordert schon atmosphärisch ein moderneres Ambiente als die badische Neoklassik mit Spielkasino parterre. Im – zeitgenössisch klein geschriebenen – congress centrum neue weimarhalle dagegen ist nicht nur alles größer, sondern jünger, kultivierter, ambivalenter, geschmackvoller und vor allem: professioneller als in Baden-Baden. Als Sonntag die Vorjahressieger liefen und das ARD-Biopic „Bach“ rund 20 Stunden später den Wettbewerb eröffnete, herrschte demnach Vorfreude mit Tendenz zur Euphorie.

„Hier passt das Festival inhaltlich, aber auch stilistisch perfekt her“, frohlockt Mitveranstalter Hans-Jürgen Drescher zwischen 70er-Sesseln und 90er-Dielen im retrofuturistischen Foyer stellvertretend für die Deutsche Akademie der Darstellenden Künste DADK. Dass Thüringens Ministerpräsident Mario Voigt zur offiziellen Eröffnung ein Grußwort sprach, mag da noch dem Debütantenball geschuldet sein; der Bedeutung des Ortes zwischen Gau-Forum und Goethe, Buchenwald und Schiller, Rechtsruck und Kunsthochschulen ist es umso angemessener.

Das Thema Vielfalt ist omnipräsent

Unterm Festival-Motto „Ankommen in Mitteldeutschland“ ging es bis zur Preisverleihung am Freitagabend zwar offiziell darum, Ost und West 36 Jahre nach dem Mauerfall auch fiktional zu vereinigen. Noch lauter jedoch ist von der ersten, wie üblich publikumsöffentlichen Jury-Diskussion an, das gesellschaftspolitische Grundrauschen gestapelter Krisen. Wenn die Preisgerichte unter der mächtigen LED-Wand – „mit acht Metern höher als in Baden-Baden breit“, wie Urs Spörri nach der Auftaktdebatte prahlt – über fünf Serien und zehn Filme urteilen, ist gerade das Thema Vielfalt omnipräsent.

Kein Wettbewerbsbeitrag, der nicht zumindest im Subtext Selbstermächtigung, Sichtbarkeit, Repräsentation marginalisierter Gruppen behandelt. Keine Erzählung, an der Filmjurorin Elsa van Damke – 2024 selber mit „Angemessen Angry“ siegreich – nicht dennoch ein linksfeministisches Haar gefunden hätte. Vor allem aber: Kein Beitrag, den wie früher vorwiegend weiße Männer mittleren Alters wie Jury-Präsident Andreas Dresen bewerten. Jedes Weimarer Podium ist so divers besetzt, dass man sich in der siebenköpfigen Gesprächsrunde um Maria Furtwängler zum Thema Gewaltinszenierung wenigstens einen Mann, gern auch schwarz, schwul und behindert, gewünscht hätte.

Aber das ist Jammern auf progressivem Niveau. Denn die TeleVisionale in Weimar beweist ihre Bedeutung als Seismograf zeitgenössischer Medientrends nicht nur durch vielfältig besetzte Bühnen und Säle. Mehr noch als in Baden-Baden etabliert sie sich am neuen Standort zügig als – buchstäblich zentraler – Treffpunkt einer zersiedelten Branche unter Beschuss von Populismus, Kostendruck, Streaming und dem Wandel früherer Sehgewohnheiten. Die meisten der drei Dutzend Foren, Panels, Gespräche und Workshops waren daher trotz verdoppelter Kapazitäten so überfüllt, dass sogar Stehplätze mitunter knapp wurden.

Beim exquisit besetzten Diskurs zum Thema Fördergeldreform, Steueranreize und Investitionsverpflichtung zum Beispiel, trockener Gesprächsstoff für Bürokratie-Nerds, platzte der Flügelsaal schon vor der kämpferischen Keynote von Produktionsallianz-Geschäftsführerin Michelle Müntefering aus allen Nähten. Steffen Grimbergs Vortrag über die Ursünden der medialen Wiedervereinigung füllte zuvor trotz bekömmlicher Konkurrenz vom Mittagstisch zwei Drittel der 160 Plätze. Und wer glaubte, morgens um zehn bei Niki Steins RAF-Drama „Stammheim“, gefühlt der einzige Film von van Damkes Diversitätsgnaden, freie Platzwahl zu haben, irrte erst sich und dann durch gut gefühlte Stuhlreihen.

Zwischen Theorie und Praxis

In Weimar fehlt zwar der rote Teppich. Virtuell wird er jedoch für all jene ausgerollt, denen an Film und Fernsehen mehr gelegen ist als an Hochglanzfotos im Klatschblatt. Doch wie viel Luft da noch nach oben ist, machte „Tatort“-Regisseurin Mira Thiel im Schlusswort zur Gewalt-Debatte klar: „Die Welt der Panels muss sich mit der Welt des Drehens verbinden“. Anders gesagt: die Theorie besserer Produktionsbedingungen sollte praktisch werden. Viele Wettbewerbsbeiträge sind mit maximaler Selbstausbeutung für minimale Anerkennung entstanden. Bilâl Bahadırs migrantisches Laientheater „Uncivilized“ zum Beispiel.

Oder Lamin Leroy Gibbas Achtteiler „Schwarze Früchte“. Als schwuler Unsympath afrikanischen Ursprungs stößt der schauspielende Showrunner trotz geringer Mittel aller Welt so virtuos vor den Kopf, dass nach einer Reihe internationaler Festivals auch der große Saal tobt. Nur: nützen wird ihm wohl selbst der Sieg in Weimar wenig. Die ARD setzt das Wackelkamera-Juwel nicht fort. Warum? „Weiß ich jetzt auch nicht so genau“, antwortet er beim Publikumsgespräch gequält lächelnd. Am Format kann es kaum liegen. Und das gilt für die meisten Wettbewerbsbeiträge.

Vom Ruhrpottwestern „Theken-Cowboys“ übers hochpolitische Historytainment „Rosenthal“ bis zum Pädophilie-Drama „No Dogs Allowed“ zeigt es die Vielfalt der Filmbranche schließlich in seiner ganzen Bandbreite. Auch Gibbas Konkurrenten wie das Medical „Krank Berlin“ oder die Coming-of-Age-Tragikomödie „Chabos“ zeigen, was Désirée Nosbusch zwischen zwei Sitzungen sagt: „Das Programm der TeleVisionale macht mich stolz, zu diesem Beruf in dieser Branche dieses Landes dazuzugehören“. Manchmal, fügt die Serienjury-Vorsitzende hinzu, „liegt die Qualität deutscher Fiktionen halt nur im Verborgenen“.

Sofern man sie nicht aus dem Schatten millionenteurer Netflix-Produktionen ins Licht der Öffentlichkeit holt. Und das leuchtet, bei aller Wertschätzung für Baden-Baden, in Weimar ungleich heller. Auch wegen neuer Preiskategorien für Kinderserien oder Gewerke abseits der Kamera. Die Zahl ortsansässiger Gäste mit Kleingartenoutfit war im Kurhaus zwar höher. Dafür aber, dass Weimar diesbezüglich klein anfängt, ist die TeleVisionale schon beim Debüt zu stattlicher Größe gewachsen.