Mit mulmigem Bauchgefühl klappe ich meinen Laptop auf und beginne diesen gewagten Selbstversuch. In meinem Schädel pocht immer wieder die Frage auf, warum ich mich auf dieses riskante Experiment eingelassen habe. Warum tue ich das meinem halbwüchsigen Geist und knabenhaften Körper überhaupt an? Doch noch gibt es kein Zurück mehr. Ich klicke entschlossen auf den mir geschickten Link. Das Fenster im Browser öffnet sich.

Ich tauche ein in eine wunderbare Welt in 4:3. Es erscheint ein gezeichnetes Männchen im Bild, scheinbar eine Art Troll. Die wohl mit Paint auf einem Windows 3.x gezeichnete Kreatur klopft an die Kameralinse und eine Augenkrebs erregende Schrift erscheint: Hugo. Da ist es wieder, dieses eindringliche Wort. Es ertönt etwas, das ich ganz frei als eine Art Anfangsmelodie interpretiere, während ein kunterbuntes Intro läuft, das Moviemaker-Übergänge urplötzlich ansehnlich erscheinen lässt. Ich bin mittendrin, im ersten Kapitel meines absurden Abenteuers.

„Hallo und herzlich Willkommen bei Hugo. Ich hoffe ihr habt euren Feiertag ganz gut überstanden. im Gegensatz zu mir: Ich war am Mittwoch - also das war zwar nicht der Feiertag - aber ich war im ‚Terminal‘ tanzen, bis die Fetzen geflogen haben... Sind... Und ich habe Muskelkater bis hier oben hin! Also: Wah! Mir is Wurscht!“ beginnt die eloquent nicht ganz auf der Höhe zu scheinende Moderatorin mit übertrieben kindlicher Naivität ihre improvisierten Textbausteine auszuplaudern. All das in einem quietschbunten Studio, das so aussieht, als sei es in einem Jacket des jungen Thomas Gottschalk gebaut worden.

„Ich freu mich auf die nächste halbe Stunde. Ich hoffe, ihr habt eure Tastentelefone parat und ruft mich schonmal an“, fährt sie mit klammer Kehle fort und gibt, während ich noch verzweifelt nachgoogle, was eigentlich genau ein „Tastentelefon“ war, eine Nummer durch, die dem gepeinigten Pöbel vor den Empfangsgeräten wohl ermöglicht Teil der Sendung zu werden. Wie, warum und inwiefern einen das im Leben weiter bringt, bleibt mir bisher schier schleierhaft. Judith Hildebrandt kündigt Preise an, die es zu gewinnen gibt. Eine Aussage, die meinen inneren Justus Jonas zu der bahnbrechenden Erkenntnis kommen lässt: Aha, das wird also eine kultige Gameshow! Verstehe.

Hugo© Kabelkanal

„Brumm! Hinaus in die Welt! Boah, das wird bestimmt voll lustig!“, meint die quirlige Judith Hildebrandt zum zu gewinnenden Roller, in einem Ton, den man nur als „keck“ bezeichnen kann, und beendet den Satz, wie sie jeden Satz beendet: Mit einem gebrochenen Lachen, das so echt ist wie Kim Kardashians Körperkult. Die erste Anruferin ist am Apparat. „Ich zeige dir jetzt erstmal, in welcher Situation sich Hugos Familie befindet, und zwar bei der Hexe Hexana“, verspricht Judith, die kleine, süße Maus vom Kabelkanal mit der voluminösen Lockenpracht.

Es folgt ein Einspieler, der wie der Beginn eines Computerspiels daherkommt und dessen Aussage ebenso eindringlich wie simpel ist: Hugos Familie wurde von Hexe Hexana gefangen. Ein erschütterndes Schicksal, das den kundigen Zuschauer selbstredend betroffen macht. Nun muss die Anruferin gemeinsam mit Hugo, dessen Äußeres irgendwie an Dunja Hayali erinnert, in einer mittelalterlichen Frühversion eines Jump&Run-Spiels dessen Familie befreien. Kläglich versucht sie unter den tosenden Ratschlägen der Moderatorin á la „Was machst du denn?“ und „Du musst die 3 drücken!“ den kleinen Waldracker durch seinen natürlichen Lebensraum zu führen und hat hierzu die Möglichkeit, mit den Telefontasten 2 und 8 Hugo in Echtzeit nach oben oder nach unten zu bewegen.

Und nun wird meinem müden Gehirn endlich auch bewusst, was das Konzept dieser desolaten Veranstaltung darstellt: Eine Spielshow für langweilige Nachmittage der 90er Jahre ohne Internet, mit Schnapparmbändern und fusseligen Furbys. Ein Relikt aus der Kreidezeit des Let’s Plays. Ganze drei Jahre flimmerte ‚Die Hugo Show‘ damals über die blassen Bildschirme der Republik und brachte unter anderem auch Sonja Zietlow hervor, die heutige Generalbeauftragte für Hoden essende Umlaut-Prominente.

Hugos Heimat war der Kabelkanal, ein Fernsehsender, der - wie sich durch meine Google-Recherche ergab - später zu kabel eins wurde. kabel eins ist wiederum ein Fernsehsender, der - wie sich durch eine erneute Google-Recherche ergab - heute noch existiert.

Hugo© Kabelkanal

Zu gewinnen gibt es einen „Superpreis“, der mit einem inspirierend und wegweisenden Text präsentiert wird, den ich gerne einmal von Hellmuth Karasek rezensiert gesehen hätte: „Das Mountainbike Adventure XR von Kettler! Damit macht Hugo dich zum ‚King of the Road‘! Mit den grobstolligen Profilreifen kratzt du sogar im Winter jede Kurve! Hugo und ich gratulieren dir zu diesem schnittigen Flitzer!“. Ich spüre nichts. Totenstille in meinem hallenden Seelenleben. Nur die ständig wiederkehrende Frage meines gebeutelten Unterbewusstseins, nicht heimlich auch einmal mit einem „schnittigen Flitzer“ ein, ja vielleicht sogar DER ‚King of the Road‘ sein zu wollen.

Klaus ist am Apparat. Klaus (32) aus Berlin, muss mit den Tasten 4 und 6 im Spiel Zügen ausweichen und schnell wird durch seine beherrschende Technik sowie sein strategisches Vorgehen bei dieser banalen Aktivität klar: Klausi ist saudumm. Drei mal scheitert er mit dem selben Fehler und bekennt resigniert „Es sollte nicht sein“. Eine folgenschwere Katastrophe. Als Trostpreis wird er mit einem jämmerlichen Hugo-Fan- Shirt bestraft. Die Minuten verstreichen, ein Anrufer nach dem Anderen reiht sich ein und schlagartig wird mir klar: Diese Sendung anzusehen ist das einschläfernste, was ich meiner Person angetan habe, seit meinem Versuch, den Weltrekord im Raufastertapeten-Anstarren zu brechen.

Wenngleich ich in den bilateralen Gesprächen zwischen Anruferin und Moderatorin zugegebenermaßen einiges abgewinnen kann. Dialoge zum anfassen, wie der zwischen Judith und Anrufer Alex... Judith: „Und weißt du schon, was du am Wochenende machst?“, Alex: „Keine Ahnung.“, Judith: „Keine Ahnung? Das hört sich aber nicht so... fröhlich an...“, Alex: „Doch!“, Judith: „Doch? Ja?“, Alex: „Jo“, Judith: „Jo“. Hier lernt man am perfekt inszenierten Paradebeispiel die Regeln der Konversationskunst und bekommt eine Art rhetorisches Survival-Kit mit auf den Weg zum König des seichten Smalltalks. Danke hierfür, Judith.

Verwirrt und noch paralysiert vom Gesehenen klappe ich meinen Laptop zu, noch während die charakteristische Titelmelodie leise vor sich hindudelt. Stille legt sich auf mich nieder. Was habe ich da eben erlebt? Erwacht aus einem Fiebertraum der Gefühle blicke ich mich in meinem Zimmer um. Übrig bleibt nur ein Hauch bittersüßer Melancholie, die dringliche Frage, wie mein Gehirn das Erlebte einzuordnen hat und die erschreckende Erkenntnis, dass der Begriff „schnittiger Flitzer“ in meinem Leben bisher viel zu selten vorgekommen ist.