Vor sechs Wochen ist eine Freiburger Studentin vergewaltigt und ermordet worden. Die "Tagesschau" entschied sich damals dafür, nicht über den Fall zu berichten - kein ungewöhnlicher Vorgang, schließlich hielt schon in der Vergangenheit kaum ein Mord als Meldung Einzug in Deutschlands meistgesehene Nachrichtensendung. Und so rief die Entscheidung der Redaktion auch keine Kritik hervor. Am Wochenende war das nun völlig anders. Nachdem ein 17-jähriger Flüchtling aus Afghanistan als Verdächtiger festgenommen wurde, verfassten zahlreiche Menschen in den sozialen Netzwerken wütende Kommentare, in denen sie von der ARD forderten, endlich über den Mord und seine Hintergründe zu berichten.

Inzwischen steht nun der immer wieder schnell hervorgeholte "Lügenpresse"-Vorwurf im Raum - ganz so, als wolle die "Tagesschau" die Realität im Land verschleiern. Dabei hat sich die Redaktion nicht anders verhalten als bei den meisten anderen der gut 300 Mordfälle, die Jahr für Jahr in Deutschland passieren. Warum die Straftat eines Flüchtlings besonders hervorgehoben werden soll, erschließt sich jedoch nicht. "Bei aller Tragik für die Familie des Opfers hat dieser Kriminalfall eine regionale Bedeutung. Die 'Tagesschau' berichtet überregional, als Nachrichtensendung für ganz Deutschland", erklärte die Redaktion am Sonntag auf Facebook, konnte die Gemüter damit aber nicht beruhigen. 

Aus Sicht der "Tagesschau" ist die Entscheidung nachvollziehbar, auch wenn Chefredakteur Kai Gniffke inzwischen noch einmal klargestellt hat, dass man sich auch anders hätte entscheiden können. "Man hätte durchaus mit dem Gesprächswert dieses Mordfalls argumentieren können, denn tatsächlich hatten die beiden jüngsten Vergewaltigungs- bzw. Mordfälle in Freiburg (von denen man nicht weiß, ob sie zusammenhängen) zu einer größeren Aufmerksamkeit der Medien geführt, auch über die Region Freiburg hinaus", schreibt er in einem Blogeintrag. "Da wir für die 'Tagesschau' den Gesprächswert eines Themas aber etwas geringer gegenüber dem Kriterium der Relevanz gewichten, haben wir uns gegen den Mordfall in der Sendung entschieden."

Unterschiedliche Ansichten

Damit geht die "Tagesschau" allerdings einen anderen Weg als die meisten Mitbewerber. So handelt es sich nach Einschätzung von N24 "keinesfalls um eine regionale Geschichte", wie Sendersprecherin Kristina Faßler am Montag gegenüber dem Medienmagazin DWDL.de sagte. "Das Geschehen in Freiburg hat die Menschen längst bundesweit berührt und interessiert. Deshalb haben wir uns auch für die Übertragung der Pressekonferenz entschieden, übrigens bevor wir wussten wer tatverdächtig ist." Ganz ähnlich sieht man das bei RTL, wo die Verhaftung des Tatverdächtigen ebenfalls Thema in den Nachrichten war.

"Der Fall der getöteten Studentin war nicht zuletzt durch den Verdacht einer Serientäterschaft längst über ein regionales Ereignis hinausgewachsen", betont auch RTL-Sprecher Matthias Bolhöfer. "Nachdem die Polizei dann zu einer Pressekonferenz eingeladen hatte, war es für uns an diesem Tag eine selbstverständliche nachrichtliche Pflicht, unsere Zuschauer über die Festnahme des mutmaßlichen Täters zu informieren." Und auch beim ZDF spricht man von einer "überregionalen Wahrnehmung" der Morde in Freiburg und Endingen, deren  nicht auszuschließende Verknüpfung das Thema für viele Zuschauerinnen und Zuschauer relevant gemacht habe.

Aus diesem Grund haben sowohl die "heute"-Sendungen als auch das "heute-journal" am Samstag im Nachrichtenüberblick die Information der Staatsanwaltschaft und der Polizei Freiburg über den Ermittlungserfolg vermeldet, heißt es zur Erklärung aus Mainz. "Die ZDF-Nachrichtenredaktionen müssen aus der Flut der täglichen Ereignisse eine Auswahl der relevanten Themen treffen. Das ist immer eine Abwägungsfrage - in der neben verschiedenen anderen Kriterien auch der Gesprächswert eine Rolle spielt", stellt ein ZDF-Sprecher auf DWDL.de-Nachfrage klar. "Die Fälle der beiden getöteten Frauen in Freiburg und Endingen am Kaiserstuhl sind in den vergangenen Wochen vielfach in den Medien aufgegriffen worden, da beide Gewalt- und Sexualverbrechen die Öffentlichkeit nicht nur im badischen Raum stark verunsichert haben."

"Die Herkunft des mutmaßlichen Täters hat mit der Entscheidung nichts zu tun."
Kai Gniffke

Die "Tagesschau" kam letztlich zu einer anderen Entscheidung - auch vor dem Hintergrund, dass in der Sendung nur selten über Kriminalfälle berichtet wird. Man habe geprüft, ob sich der Freiburger Fall von anderen Mordfällen abhebt, erklärt ARD-aktuell-Chefredakteur Kai Gniffke. Weil man das nicht so sah, wurde der Tod der jungen Frau vor einigen Wochen letztlich nicht gemeldet. "Und genau aus demselben Grund haben wir auch bei der Verhaftung des Tatverdächtigen diesen Maßstab nicht verschoben. Die Herkunft des mutmaßlichen Täters hat also mit dieser Entscheidung nichts zu tun", betont er nun.

Gniffke: "Bitte glauben Sie mir, dass ich mich schwer tue, bei einem Mordopfer von fehlender Relevanz zu sprechen. Das klingt zynisch. Der Gedanke, ein Mensch aus dem eigenen Umfeld könnte das Opfer sein, nimmt einem jeglichen Zynismus. Die Tagesschau-Redaktion empfindet wie alle anderen auch Mitgefühl. Das schließt aber nicht aus, dass wir nach unseren Kriterien Nachrichten machen, die ich versucht habe zu verdeutlichen." Mit den schnellen Rufen nach "Lügenpresse" hat diese Entscheidung tatsächlich nicht viel zu tun. Sie ist in erster Linie konsequent.

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