Laut einer FX-Studie wurden 2018 mehr Serien produziert, als es in je einem anderen Jahr der Fall war. 495 sind es an der Zahl. Und dies sind lediglich die englisch-sprachigen Produktionen. Das Geschäft ist also hart umkämpft und die Projekte mit den besten Überlebenschancen sind diejenigen, die so konzipiert wurden, dass sie die Zuschauer am meisten packen. Um das zu schaffen, gibt Fernseh-Gigant HBO beispielsweise für jede der sechs letzten “Game of Thrones”-Episoden stolze 13 Millionen Euro aus. In Skandinavien wurde jedoch eine Art des Quotenhits geschaffen, die rund 12,99 Millionen Euro günstiger sein kann.
Die Rede ist vom Phänomen Slow-TV, welches 2009 an einem Freitagabend in Norwegen so richtig zum Leben erwachte. Der öffentlich-rechtliche Sender NRK füllte das eigene Programm mit einer Sendung, die eine Laufzeit von 7 Stunden 14 Minuten und 13 Sekunden hatte und auf den Titel “Bergensbanen minutt for minutt” hört. Auf deutsch: Hier fährt ein Zug. Und der Zuschauer darf dabei zusehen. Los geht es vom westlich gelegenen Bergen in die östliche Hauptstadt Oslo. Damit wurde auch bereits die Handlung der Produktion verraten, die an die Länge einer millionenschweren Staffel einer Serie heranreichen kann. Während in vielen Serien jedoch ein ausgetüfteltes Drehbuch auf den Bildschirm gebracht wurde, kann sich der Zuschauer bei seiner Zugfahrt nach Oslo vor allem auf die Ruhe konzentrieren.
Und diese kostet nicht viel. "Wir haben knapp 10.000 Euro für dieses Projekt in die Hand genommen", verrät Erfinder Thomas Hellum dem Medienmagazin DWDL.de. "Dennoch ist das einiges an Geld dafür, dass wir absolut keine Ahnung hatten, wie das Publikum reagieren wird." Das Ergebnis: 1,2 Millionen Zuschauern schalteten zumindest mal rein - fast jeder fünfte Einwohner Norwegens. Das sind Dimensionen, die man hierzulande vielleicht mit Fußball erreicht, wenn's gut läuft.
“Ich bin 76 Jahre alt und habe gerade das beste Fernsehprogramm meines Lebens gesehen. Ich habe die gesamte Reise des Zuges verfolgt. Kurz vor der Endstation bin ich aufgestanden und holte meinen Koffer. Als ich die Gardine aufgezogen habe, merkte ich, dass ich in meinem eigenen Wohnzimmer bin.”
- Ein "Bergensbanen"-Zuschauer über seine Erfahrung mit Slow TV
Der erste Gedanke, der einem dazu kommt: "Was zum…?". Der Zweite: "Das war doch nur die anfängliche Neugier!" Doch seit der Pionier-Leistung von 2009 hat Slow-TV einen festen Platz erobert. So wurde der Anfang 2010 gegründete YouTube-Kanal "Train Driver‘s View" zum Mekka vieler Zugfreunde, die dort aus fünf Live-Streams mit unterschiedlichen Zug-Aussichten wählen können. Mancher mag das vielleicht als nette Geräuschkulisse für den Hintergrund nutzen. Tatsächlich wäre das aber gar nicht im Sinne von Produzent Thomas Hellum und seines Teams. "Die Menschen sollen das nicht als Bildschirmschoner benutzen", bittet er und appelliert daran, sich dem eigentlichen Sinne seines Genres anzunehmen. Es sollen die Details beobachtet werden, die man in üblichen Serien und Filmen wegen schneller Schnitte nicht sehen kann. "Slow-TV ist nicht das Gleiche, wie Farbe beim Trocknen zuzuschauen. Es ist eine Kunstform, die kein Drehbuch hat. Dadurch kann sich der Zuschauer seine eigenen Geschichten ausmalen und seine Fantasie anregen." Entschleunigung sei das Motto.
2011 hob das Team um Hellum das Ganze auf ein neues Level und betrat mit 23 Mann das Schiff Hurtigruten, welches in einer legendären Reise seit über 100 Jahren von Bergen nach Kirkenes schippert. Dieses Mal in kurzweiligen 8.040 Minuten, oder auch fünfeinhalb Tagen. Diesmal wurde auch live übertragen - und Tausende Menschen beobachteten das Schiff von Land aus, zelebrierten dieses Event regelrecht. Und diejenigen, die nicht vor Ort waren, saßen live vor dem Fernseher, um ihre Freunde und Familie zu sehen. Ein ganzes Land winkte sechs Tage lang in die insgesamt elf Kameras. 3,2 Millionen von insgesamt fünf Millionen Norwegern schalteten ein. "2,2 Millionen Euro haben wir für dieses Projekt ausgegeben", sagt Hellum. "Mit dem Geld werden sonst vier einstündige Dokumentationen gedreht."
“Ich habe mein Bett seit fünf Tagen nicht benutzt.”
- Ein 82-jähriger “Hurtigruten”-Zuschauer, der seinen Fernseher nicht mehr verlassen wollte
Seitdem ging es weiter und weiter: Ob nun eine Piep-Show, in der 14 Stunden lang Vögel in einer Miniatur-Bar gefilmt werden, 18 Stunden Live-Lachsfischen, eine Real-Time-Bildergeschichte, die beim Schaf beginnt und beim Pullover aufhört oder auch ein einfaches Lagerfeuer, das endlos vor sich hinlodert. Das Geheimnis hinter dem Erfolg erklärt Hellum so: "Der Zuschauer erlebt gerne etwas, das in Echtzeit geschieht. Es vermittelt ein Gefühl von Anteilnahme, das ein Hollywoodfilm nicht liefern kann." Es sei auch wichtig, absolut keines der aufgezeichneten Bilder zu bearbeiten, da sich der Zuschauer so seine eigenen Geschichten ausmalen kann. Und da liegt er nicht falsch. Im Selbsttest kann schnell herausgefunden werden, dass Slow-TV tatsächlich die Fantasie anregt. Wenn ein Bild auf lange Sicht nur geringfügig verändert wird, spinnt man sich eben seinen eigenen Storybogen zusammen. "Wir lassen das Bild stehen, bis es wirklich weh tut."
Der Ur-Vater dieser Form dürfte jedoch Amerikaner sein. Mit seinem Debütfilm "Sleep" hat Andy Warhol 1963 einen avantgardistischen Film in die Öffentlichkeit gebracht, der lediglich zeigt, wie er und sein Freund John Giorno schlafen. Für fünf Stunden und 20 Minuten. Von den neun Menschen, die zur Premiere gekommen sind, haben gerade mal Zwei den Saal vorzeitig verlassen. Das Slow-TV-Interesse gibt es also nicht nur in Norwegen.
So konnten die Isländer 2016 bei einer 24-Stunden-Übertragung dabei sein, die zeigte, wie die Band "Sigur Rós" einmal um die Insel gefahren ist. "Route One" ist eine 1.332 Kilometer lange Reise, die dabei als smarter Weg diente, die Single "Óveður" zu promoten. Auch auf Australiens Sender SBS Viceland ging es Anfang dieses Jahres auf eine 17-stündige Reise durch‘s eigene Land. Dafür wurde einmal mehr der Klassiker genommen, der Zug. Mit einem Katzensprung geht es in Echtzeit von Adelaide ins 2.979 Kilometer entfernte Darwin.
Auch in Deutschland hat man sich an diesem Trend versucht, sogar schon viele Jahre, bevor es die Norweger taten. Im September 1995 ging mit “Die schönsten Bahnstrecken Deutschlands” eine Sendung an den Start, die bei der ARD immerhin bis Ende 2013 durchgehalten hat. Auch hier gab es kommentarlose Zugfahrten, allerdings nur als Füller im Nachtprogramm ohne großes Publikum. Näher am norwegischen Beispiel war jüngst der RBB, der an einem Samstagmorgen vier Stunden lang dokumentierte, was man bei der Fahrt auf der neuen Schnellfahrstrecke zwischen München und Berlin zu sehen bekommt - und das sogar auf zwei unterschiedlichen Kanälen in beide Richtungen. Mehr als 30.000 Zuschauer wurden im Schnitt aber nicht gezählt.
Weitere Beispiele: In “Mora – Gib dir echtZeit” hat ARD alpha von 2015 bis 2016 Menschen beim Arbeiten beobachtet. Ebenfalls ohne Schnitt, ohne Kommentar, ohne Musikuntermalung. Quoten wie in Norwegen konnten beim Nischensender jedoch keineswegs erreicht werden. Bei Tele 5 konnte man 2016 Friedrich Liechtenstein 72 Minuten beim Boccia-Spielen beobachten - hier auf die Spitze getrieben, weil die Aktivitäten sogar in Zeitlupe gezeigt wurden. Für eine Grimmepreis-Nominierung hat das gereicht, für einen großen Quotenerfolg erwartungsgemäß nicht. Die neueste deutsche Versuchung am Slow TV findet die kommende Weihnachtszeit auf sixx statt. Zum Fest der Liebe erscheinen bei "Weihnachtswelpen - eine tierische Bescherung" sechs knuddelige Hunde auf der Fernsehfläche, die zwischen Geschenkpapier und Lametta herumtollen. Mit der Laufzeit verhielt man sich aber auch hier verhalten: Eine knappe Stunde können die Welpen angeschmachtet werden.
Auch wenn das deutsche Publikum seine Liebe zum Slow-TV also wohl erst noch entdecken muss: Solange es Menschen gibt, die Gras beim Wachsen zuschauen wollen und solange es Anbieter wie Netflix gibt, die in solche Projekte investieren, wird das Genre weltweit keine kurzfristige Erscheinung gewesen sein. NRK Projektmanager Thomas Hellum selbst hat noch ein weiteres Mega-Projekt gestemmt: "Wir sind vier Wochen lang durch die Bergwege von Hardangervidda gelaufen, die unter anderem durch Jotunheimen verliefen. Fünf Tage der Woche waren wir live." In Norwegen reichte das für beachtliche Quoten. Slow TV hat sich in Skandinavien also gemächlich angeschlichen und wird wohl noch langsamer gehen.
Das Slow TV-Programm "Weihnachtswelpen - eine tierische Bescherung" läuft heute um 18:20 Uhr auf sixx. Wiederholungen finden am Mittwoch, den 26.12 um 4:30 Uhr statt, sowie am 27.12 um 3:55 Uhr.