Am Mittwochmorgen blickte die Branche und Interessierte weit darüber hinaus mit besonderer Spannung auf die Quotendaten des Vortags - schließlich lief da das Finale von "The Masked Singer" und damit dem bei Jüngeren erfolgreichsten Show-Neustart seit vielen Jahren. 10,37 Millionen Zuschauer für "Masked Singer" jubelte der Sender in einer Pressemitteilung, auch via Twitter verbreitete ProSieben diese Zahl. Auf den ersten Blick sind das Werte, wie man sie sonst allenfalls vom "Tatort" kennt. Wer bei DWDL.de nachliest oder sich die offiziellen Quotencharts der AGF ansieht (täglich neu in unserer "Zahlenzentrale"), stößt hingegen auf eine ganz andere Zahl: 5,34 Millionen Zuschauer werden hier angegeben - was für ProSieben trotzdem noch die höchste Reichweite seit dreieinhalb Jahren war.
Doch wer hat denn nun recht? Die Verwirrung war groß, wie zahlreiche Rückfragen, die DWDL.de dazu erreichten, belegen. Nun: Korrekt sind beide Werte. Nur dass sich die großen Privatsender vor einiger Zeit entschieden haben, in der öffentlichen Kommunikation nicht mehr die seit Jahrzehnten geläufigen Zahlen in den Vordergrund zu stellen. Dazu muss man verstehen, was die landläufig bekannte TV-Quote eigentlich angibt: Wenn von 5,34 Millionen Zuschauern die Rede ist, dann bezieht sich das auf die "durchschnittliche Sehbeteiligung" - also wieviele Menschen die Sendung über die gesamte Dauer im Schnitt verfolgt haben. Wer nur ganz kurz reinschaltet, fällt also kaum ins Gewicht. Vereinfacht gesagt: Wenn 10 Leute nur die Hälfte der Sendung sehen, dann liegt die durchschnittliche Sehbeteiligung nur bei 5 Zuschauern. Auf die 10,37 Millionen Zuschauer von "The Masked Singer" kommt ProSieben, indem man stattdessen die Zahl all derer angibt, die mindestens eine Minute der Sendung am Stück gesehen haben.
Beide Zahlen geben letztlich nicht genau das wieder, was der Laie unter der Einschaltquote versteht. Wer nach 30 Minuten in die Sendung schaltet, würde sich sicherlich als Zuschauer verstehen - wird aber in der durchschnittlichen Sehbeteiligung nur anteilig gewertet. Wer beim Drüberzappen nach knapp über einer Minute weiterschaltet, würde sich hingegen wohl kaum als "Masked Singer"-Zuschauer bezeichnen, ist nun aber in den 10,37 Millionen Zuschauern enthalten. Einen Haken haben also beide Werte - die Sender verfallen in ihrer Kommunikation nun aber leider in ein Extrem, das an Aussagekraft zu wünschen übrig lässt. Problemlos ließe sich beispielsweise die Betrachtungsspanne von 1 Minute Nutzung auf eine längere Zeitspanne ausweiten, die eher abbildet, ob sich jemand tatsächlich für eine Sendung interessiert hat - doch das würde ja die hohen Zahlen ein Stück schmälern.
Dass man das nicht will, hängt damit zusammen, dass sich das Fernsehen gegenüber anderen Medien schon lange benachteiligt sieht - und das nicht zu unrecht. Kein anderes Medium ist bei der Reichweiten-Ausweisung bislang so defensiv vorgegangen wie das Fernsehen, was die Einschaltquoten (bei aller Kritik an der Erhebung durch ein begrenztes Haushalte-Panel) aber auch zu einer besonders harten Währung machte. Kein Verlag käme wohl auf die Idee, einen Leser nur als zehntel Leser zu zählen, nur weil er nicht jeden Artikel einer Zeitung durchgelesen hat. Doch es sind natürlich vor allem die Vergleiche mit den Online-Diensten, die die Fernseh-Sender zunehmend schmerzen.
Denn wenn, wie es selbst in vielen Medien Gang und Gäbe ist, YouTube-Abrufzahlen mit TV-Reichweiten verglichen werden, dann entbehrt das bislang jeder Grundlage. Während im TV wie beschrieben die durchschnittliche Sehbeteiligung hergenommen wird, zählt jeder Klick auf ein YouTube-Video schon als ein View, auch bei Facebook und anderen Plattformen werden als Mindest-Nutzungszeit für die Zählung in der Regel gerade mal 3 Sekunden hergenommen - die 60 Sekunden des Fernsehens erscheinen da schon wie eine halbe Ewigkeit. Und mehr noch: Während die Sender auch bei den jetzt so hohen Zahlen immerhin Netto-Reichweiten angeben - wer mehrfach in die Sendung schaltet wird also trotzdem nur einmal gezählt - ist bei Youtube und Co. jeder Aufruf ein View, egal ob es immer wieder die selbe Person ist.
Es hat daher längst ein unrühmlicher Wettbewerb um die höchste ausgewiesene Reichweite eingesetzt - Devise: nur nicht zu klein machen gegenüber den anderen Anbietern. Selbst Netflix, das ja ohnehin nur sehr begrenzt Zahlen ausweist, ist dem inzwischen verfallen. Während bei den wenigen Reichweiten, die ab und an genannt werden, bislang Zuschauer erst dann gezählt wurden, wenn sie mindestens 70 Prozent des Inhalts gesehen haben, reichen dafür neuerdings schon 2 Minuten. Für die Beurteilung eines Erfolgs entbehrt das jeder Aussagekraft, sorgte aber für 35 Prozent höhere ausgewiesene Reichweiten, wie der Streaming-Dienst seinen Aktionären erklärte.
Insofern ist es durchaus nachvollziehbar, dass das lineare Fernsehen da nicht länger als Streber abseits stehen will, der besonders stolz auf seine harte Reichweitenwährung ist, sich dafür aber von anderen Medien vorführen lassen muss. Dumm nur, dass zu den Äpfel-Birnen-Vergleichen mit anderen Medien nun auch noch Chaos innerhalb des Mediums TV dazu kommt. Zumal wenn es so gehandhabt wird, wie heute in der ProSieben-Mitteilung: Während RTL etwa bei "Let's dance" bislang mustergültig stets transparent beide Zahlen ausgewiesen hat und die höhere Netto-Reichweite im Sternchentext erklärte, nannte ProSieben einzig die erwähnten 10,37 Millionen Zuschauer. Dass es sich nicht um die seit Jahrzehnten gewohnte durchschnittliche Sehbeteiligung handelte, musste man schon aus der Formulierung "schalten in die Live-Show" herauslesen, eine weitere Erklärung, wie die Zahl zustande kommt, gab's nicht.
Dass Leser und selbst Redakteure, die sich nicht täglich damit beschäftigen, das übersehen, wäre sicherlich kein ungewollter Effekt. Bei ProSieben verweist man darauf, dass man die Netto-Reichweite schon seit dem vergangenen Sommer regelmäßig kommunziert. "Es ist auffällig, dass viele Nutzer unserer Zuschauerzahlen in der Vergangenheit Durchschnittszahlen falsch wiedergegeben haben. Dabei kommt es gerne zu Formulierungen wie, 'gestern schalteten 3 Millionen diese Show ein' – ohne dass darauf hingewiesen wird, dass es eine durchschnittliche Sehbeteiligung ist", erläutert ProSieben-Sprecher Christoph Körfer, der auch auf die oben erwähnten schiefen Vergleiche mit digitalen Medien verweist. Dass 10,37 Millionen unterschiedliche Menschen eingeschaltet haben, könne man daher schreiben, ohne damit jemanden in die Irre zu führen.
Öffentlich einsehbar und damit vergleichbar ist auch für die Fachpresse aber trotzdem weiterhin nur die durchschnittliche Sehbeteiligung - und selbst die Privatsender nennen in Mitteilungen aktuell mal diesen, mal jenen Wert. Bei DWDL.de werden Sie daher auch künftig diese seit Jahren eingeführte Währung lesen, zumal wir sie auch für die aussagekräftigere Zahl halten. Wenn die Sender höhere Reichweiten angeben wollen, dann sollten Sie zudem vielleicht eher mal darüber nachdenken, die crossmedialen Reichweiten - also inklusive der Online-Abrufe - frei zugänglich zu machen. Das würde die tatsächliche Zuschauerzahl erheblich besser abbilden als die nun nach vorne gestellte Netto-Reichweite der linearen Nutzung - und die nationalen Anbieter gegenüber den internationalen Streaming-Riesen auf Dauer nicht zunehmend kleiner erscheinen lassen.