So mancher, der gehofft hatte, attraktive Filmware bei Sony Pictures einkaufen zu können, musste sich in den vergangenen Tagen eines Besseren belehren lassen. Das einzige große Hollywood-Studio ohne eigene Streaming-Plattform hätte sich theoretisch für eine klassische Form des Programmvertriebs entscheiden können. Doch es entschied sich für – Netflix. Vom nächsten Jahr an kommen neue "Spider-Man"-, "Venom"-, "Jumanji"- oder "Bad Boys"-Streifen nach ihrer Kino- und Verleihauswertung in den USA für 18 Monate exklusiv zu Netflix. Gleichzeitig hat der VoD-Riese weltweit ein First-Look-Recht auf alle Direct-to-Streaming-Filme, die Sony entwickelt. Dem Vernehmen nach kassiert das Studio für den Deal eine Milliarde Dollar über vier Jahre.

Genau genommen geht Sony damit einen doppelten Sonderweg. Anders als die übrigen Hollywood-Studios ist es nicht selbst zum Streamer geworden, und anders als der Rest zieht es seine Schätze nicht von Netflix ab – im Gegenteil. Das Resultat für andere Programmeinkäufer ist dennoch das gleiche: Sie gucken in die Röhre. Die langjährigen Welt-TV-Versorger konzentrieren sich mehr und mehr auf direkte Kundenbeziehungen: Disney setzt auf Disney+, WarnerMedia auf HBO Max, ViacomCBS auf Paramount+, NBCUniversal auf Peacock und Lionsgate auf Starzplay. Vor drei Jahren existierte noch keine dieser Streaming-Plattformen.

Guy Bisson © Ampere Guy Bisson
Wer seinen Pay- oder Free-TV-Sender hierzulande über Jahrzehnte mit teuren, aber bequemen Output-Deals versorgte, ist nun zum Umdenken gezwungen. "Die globale Durchsetzung der Studio-Direct-Modelle beendet den Programmvertrieb, wie wir ihn kennen", erklärt Guy Bisson, Research Director der britischen Medienforschung Ampere Analysis. "Die Supply Chain vonseiten der US-Majors wird zertrennt und minimiert, während sich der Wettbewerb im Streaming-Sektor zeitgleich intensiviert. Eine historische Herausforderung für lokale TV-Häuser in Europa, die bei sinkenden linearen Reichweiten und Werbeeinnahmen viel Geld in die Hand nehmen müssen, um die wegfallenden Zulieferungen durch eigene Inhalte zu kompensieren und dazu noch eigene Plattformen aufzubauen." 

Was das in konkreten Zahlen schon heute bedeutet, hat Bissons Firma errechnet. Alle wesentlichen europäischen TV-Broadcaster haben demnach ihr Produktionsvolumen für Scripted Originals, die ausschließlich oder überwiegend zum Streaming bestimmt sind, signifikant hochgefahren. An der Spitze steht die Nordic Entertainment Group mit derzeit über 30 Projekten in Produktion für ihre Abo-Plattform Viaplay, gefolgt vom öffentlich-rechtlichen France Télévisions mit rund 25 und der RTL Group mit rund 15 Projekten. Zur Top 5 zählen ebenfalls die BBC mit elf und die ARD mit sieben Projekten.

An die Zahlen der US-Streamer reicht das natürlich noch lange nicht heran. Für die sieben Plattformen Netflix, Amazon, HBO Max, Disney+, Apple TV+, Peacock und Paramount+ sind laut Ampere Analysis aktuell 821 Originals in Entwicklung oder Produktion. Der Rekordwert, der auch etliche lokale Produktionen in Europa enthält, zeigt eindrucksvoll, was passiert, wenn jeder Konzern vertikal sein eigenes Ding macht. Die andere Seite der Medaille: Netflix hat innerhalb von zwölf Monaten 1.946 Stunden an Major-Studioprogramm verloren. Während die Taschen dort tief genug sind, um den Ausgleich durch Eigenproduktionen zu schaffen, muss sich so mancher hiesige TV-Konzern finanziell nach der Decke strecken, weil ja auch noch die linearen Sender mit Programm befüllt werden wollen. 

"Die nächste Welle der Konsolidierung hat vor allem Besitz und Kontrolle von IP und kreativem Talent zum Ziel"
Guy Bisson, Research Director, Ampere Analysis

"Die vertikale Integration wird zum Treiber weiterer Fusionen und Übernahmen", prognostiziert Bisson. "Die nächste Welle der Konsolidierung hat vor allem Besitz und Kontrolle von IP und kreativem Talent zum Ziel." Hinzu kommt, dass die Corona-Pandemie die Ungleichheit zwischen Streamern und Broadcastern weiter verstärkt hat, und zwar nicht nur beim Nutzungsverhalten der Zuschauer, sondern auch bei der Programmversorgung. So ist die Zahl der fiktionalen Entwicklungsaufträge für Streaming-Plattformen laut Ampere im zweiten Halbjahr 2020 um 38 Prozent gegenüber dem Vorjahreszeitraum gewachsen, jene für lineares TV hingegen um 42 Prozent geschrumpft.

Noch dramatischer und unmittelbarer als das Free-TV bekommen Premium-Anbieter wie Sky die Vertikalisierung der Hollywood-Studios zu spüren. Für Film- und Serienliebhaber, die bereit sind, einige Euros mehr auszugeben, sind die exklusiv verfügbaren HBO- und Showtime-Serien oder die Kino-Blockbuster im sogenannten "Pay 1 Window" bislang gewichtige Argumente für ein Sky-Abo. Alle diese Argumente werden in den nächsten drei Jahren wegfallen. Wenn die gegenwärtigen Zulieferverträge mit WarnerMedia und ViacomCBS auslaufen, werden diese ihre SVoD-Dienste HBO Max und Paramount+ auch in Deutschland ausrollen. Beide Konzerne sprechen bereits recht offen mit Produzenten über ihren künftigen Programmbedarf.

Wonder Woman 1984 / Justice League © Warner Bros./Sky
Wenn Sky kein "Game of Thrones" oder "Westworld" mehr hat und auch keine frühzeitige Premiere von "Wonder Woman" oder "Justice League", dann ist Selbstversorgung angesagt. Kein anderer europäischer Player geht diese Herausforderung so entschlossen und mit so hohem Investment an wie die Comcast-Tochter. Sky Studios, vor knapp zwei Jahren gegründet, hat derzeit über 50 eigene Serienprojekte in Produktion und über hundert in Entwicklung. Nächstes Jahr soll der im Bau befindliche Produktionskomplex mit zwölf Studios nördlich von London fertig werden, für den in den ersten fünf Jahren ein Produktionsvolumen von 3,5 Milliarden Euro vorgesehen ist. "Unser Ehrgeiz ist keineswegs übertrieben angesichts des Bedarfs, dem wir gegenüberstehen", ordnet der kurz vorm Ruhestand stehende Sky-Studios-CEO Gary Davey die durchaus riskante Wette ein.

Dass es anderswo noch an der nötigen Konsequenz mangelt, hielt unlängst die gemeinsame Studie "Angriff aus Hollywood" von Roland Berger und dem Lehrstuhl für Marketing und Medien der Uni Münster fest. Die deutschen TV-Häuser seien gut beraten, die selbst ausgerufene Streaming-Offensive umfassend anzugehen, schrieben die Autoren um "Entertainment Science"-Professor Thorsten Hennig-Thurau. "Das muss in einer Ära, in der Hollywood-Konzerne in den deutschen Markt einsteigen und den Wettbewerb um die Sehzeit der hiesigen Zuschauer weiter verschärfen, wohl deutlich mehr sein als das, was die TV-Sender bisher bieten." Die aktuelle Verteilung der Gelder lasse Zweifel aufkommen, ob die deutschen Bewegtbildanbieter der internationalen Konkurrenz in Sachen Streaming wirklich die Stirn bieten wollten. Komplette Selbstversorgung will eben gelernt sein.