Am 14. Juli ist bei den deutschen Radiosendern wieder Zeugnistag – und in diesem Jahr wird dieser mit noch mehr Spannung erwartet als sowieso schon. Üblicherweise bekommen Radiomacher zwei Mal jährlich die Radioquoten zugestellt – einmal im März und einmal im Juli. Wegen der Coronapandemie entfiel zuletzt aber eine Quotenerhebung; und somit gibt es 2021 nur eine klassische Audio-MA-Analyse. Viktor Worms begleitet Radiosender und -macher seit über 30 Jahren. Er war früher bei RTL Luxemburg, Programmchef bei Antenne Bayern, Unterhaltungschef des ZDF und ist inzwischen als Programmtrainer und Moderatorencoach unterwegs.

 

Er glaubt, dass man die nun kommenden Zahlen nicht wirklich mit früheren vergleichen wird können. "Es ist eine ganz andere Grundgesamtheit", sagt er. Um das zu verstehen, muss man tiefer eintauchen in die Art und Weise, wie Radioquoten errechnet werden. Anders als beim Fernsehen werden Hörer angerufen und in einem rund halbstündigen Gespräch befragt, was sie gestern und in den Tagen zuvor wann und wie lange gehört haben. Solche Abfragen gibt es üblicherweise in zwei Wellen; von September bis Dezember und von Dezember bis März. Für jede Analyse werden die zwei zurückliegenden Wellen, eigentlich also immer Herbst und Winter/Frühjahr, zusammengefasst. Weil zuletzt aber keine Herbstabfrage stattfand, bestehen die neuen Zahlen nun aus zwei Winter/Frühjahrs-Wellen. "Da ist die Radionutzung generell eine andere. Es wird in dieser Zeit mehr ferngesehen, die Menschen sind allgemein weniger draußen. Je nach Zielgruppe dürfte die Radionutzung eventuell steigen oder sinken ohne eine seriös vergleichbare Bezugsgröße", glaubt Worms. Und somit sind zumindest kuriose Gewinn- oder Verlustkonstellationen nicht ausgeschlossen.

Für Radiosender sind die jeweils im Juli veröffentlichten Zahlen – unabhängig davon, dass die Erhebungsmethode ohnehin größerer Kritik unterliegt – von enormer Bedeutung. Auf ihrer Grundlage werden die Preise für Werbespots für das komplette folgende Jahr festgelegt. Daher wird am 14. Juli in einigen Sendern vermutlich ordentlich gefeiert, während andere Programmchefs die nackte Panik bekommen. Viktor Worms kennt solche Situationen, rät aber dringend von voreiligen Schritten ab.

Veränderungen brauchen Zeit

"Wenn ein Sender bei dieser MA fünf oder sechs Prozent verliert, dann wäre ich mit Änderungen sehr vorsichtig", sagt Worms. Gehe es um einen Sender, der im vergangenen Jahr an zentralen Stellen im Programm – also morgens oder nachmittags – etwas geändert hat, sollten Verluste dieser Größenordnung ebenfalls noch nicht nervös machen. "Es braucht um die zwei Jahre, bis die Menschen sich an Neues gewöhnen", sagt Worms. Wer nach einem großen Relaunch aber prompt in einer Größenordnung um 10, 15 Prozent oder mehr verliert, habe etwas falsch oder zu wenig gemacht. Es gelte also, die vorliegenden MA-Zahlen so gut wie möglich zu lesen. "Ein echtes Problem hat natürlich auch, wer drei MAs in Folge mehr oder weniger verloren hat."

Immer häufiger ist dabei ein Problem erkennbar. Stationen, die in der Ausweisung Hörer verloren haben, haben in Wirklichkeit eher an Verweildauer verloren. Bei den letztlich veröffentlichten Zahlen handelt es sich schließlich um Hörerzahlen pro Durchschnittsstunde. Und die sinken, wenn die Hördauer nachlässt. "Oft verlieren die Sender also keine Hörer, sondern werden weniger gehört, weil die Menschen Bindung verloren haben und mehr zappen als früher." Zurückzuführen sei dieser Trend womöglich auf die immer größere Austauschbarkeit der Mainstream-Sender.

 

"Ich muss Behauptungen einiger Programmchefs, wonach Inhalt Hörer töte, klar widersprechen. Wir brauchen Sender, die über Journalismus, Spaß und Spiel Substanz und Uniqueness liefern." Viktor Worms



Das Radio an sich nimmt der Programmcoach generell in die Pflicht. Vieles sei zu austauschbar geworden, die Musik größtenteils die Gleiche. Man sehe doch, dass etwas nicht stimmen könne, wenn sich Worms als mittlerweile 61-Jähriger prima in öffentlich-rechtliche Jugendradios einschalten könne. Und nicht nur der Sound ist inzwischen oftmals eintönig. "Ich muss Behauptungen einiger Programmchefs, wonach Inhalt Hörer töte, klar widersprechen. Wir brauchen Sender, die über Journalismus, Spaß und Spiel Substanz und Uniqueness liefern. Nur dann heben wir uns ab. Ava Max oder Michael Patrick Kelly singen auf meinem Sender nämlich nicht besser als bei der direkten Konkurrenz." Für viel Musik nonstop habe der Markt zudem längst Dienste wie Spotify und der Musikgeschmack gerade der jungen Generation sei bei weitem nicht so eindimensional, wie viele Programmacher glauben.

Und auch die allgemeine Floskel, dass zu viel Wort die Hörer vergraule, sei so nicht richtig. Es sei immer dann eben schlecht gemachtes Wort, das letztlich zum Abschaltfaktor wird. "Ich sage Moderatoren immer: Wenn du vier oder mehr Minuten redest, dann muss es mich vier Minuten lang packen. Dann musst du mich davon überzeugen, dass das eine gute Idee war. Wenn du nicht genug für eine Minute hast, dann belasse es bei 20 Sekunden."

Es gehe darum, über coole Aktionen und gute Beiträge eine Bindung zu erzeugen. "Ein landesweiter schwäbischer Lokalsender hatte neulich die Aktion Hörer verdoppeln das Trinkgeld von Kellner*innen, die durch diverse Lockdowns teilweise unter das Existenzminimum gerutscht sind. Das war ein Knaller, weil es eine Aktion ist, die Menschen verwurzelt. Das zahlt auf's Image ein und bringt vielmehr als ein weiteres Jahr lang Hörer-Rechnungen zu bezahlen", sagt Worms. Letztlich – und das sei heute nicht anders als vor einigen Jahrzehnten – würden Menschen im Radio eben gerne anderen Menschen folgen. Und gerade hier hätte Corona eine riesige Chance geboten. Mit um die 40 Prozent Singlehaushalten in Deutschland sei Radio einer der verlässlichen Begleiter durch die Pandemie gewesen. "Einige Sender dürften diese Chance genutzt haben, an vielen ging sie vorüber", bilanziert Worms, der auch ein strukturelles Problem feststellt. Es fehle schlicht an herausragendem Nachwuchs. "Wo sind die 30 Jahre alten Arno Müllers, Wolfgang Leikermosers oder Simone Panteleits?" – Deutschlands populärste Morgenmänner und -frauen – auch bei den Öffentlich-rechtlichen Programmen-  sind fast alle schon sehr lange On- Air.

 

Für die nächsten Jahre wünscht sich Programmcoach Worms von den Senderchefs also ein Stück weit mehr Mut, mehr Orientierung und daraus resultierend auch wieder stärkere Radiomarken. "Marken brauchen ein klares und uniques Profil und hier haben die meisten, die Bindung verlieren, ihr zentrales Problem." Ob sich die Sender wirklich dazu durchringen können? Bei Weitem nicht sicher. Vielleicht, so sagt es auch Worms, vielleicht gehe es manchen Sendern auch mit den bisherigen Formaten noch zu gut.