Es gibt Personen des öffentlichen Interesses, die sind immer schon da und gehen partout nicht weg. Jimmy Carter ist so ein lebendes Fossil der Mediengesellschaft. Tina Turner auch. Jane Fonda sowieso. Von Uwe Seeler ganz zu schweigen. Und Alfred Biolek? Erinnert selbst Wirtschaftswunderkinder leibhaftig an die Jugend vorm Bildschirm. Bis jetzt. Denn heute Nacht ist „Bio“, wie ihn alle Welt nur nennt, gestorben. Kurz nach seinem 87. Geburtstag und doch viel zu früh. Denn der Prädikatsjurist war nicht nur wegen seiner akademischen Bildung einzigartig im hiesigen Unterhaltungsfernsehen. Er war es auch fachlich, sozial, menschlich, vor allem das.

Geboren 1934 im tschechischen Freistadt, importiert Alfred Biolek bei seiner epischen Flucht vor der Roten Armee nämlich nicht nur sein rollendes R ins schwäbische Waiblingen, sondern auch Teile eines höchst originellen Elternhauses. Vater Joseph, philanthropischer Anwalt mit eigener Kanzlei, gab ihm die Liebe zu Recht und Gerechtigkeit mit auf den Lebensweg, Mutter Hedwig, gottesfürchtige Schauspielerin mit drei Kindern, die Liebe zu Unterhaltung und Barmherzigkeit. Das Resultat ist ein Entertainer, den es bis dato nicht gegeben hatte im biederblöden Nachkriegsfernsehen – und bis heute selten gibt. Schon wegen seines Werdegangs beim ZDF.

Zunächst nämlich arbeitet er als Justiziar des frisch gegründeten Senders. Bald darauf allerdings zieht es den 31-Jährigen aus der Kulisse auf die Bühne, wo er nach ein paar Ratgeberformaten „Die Drehscheibe“ moderiert – ein Boulevardmagazin, das Ende der äußerlich knallbunten, innerlich staubgrauen Sechzigerjahre zwar längst nicht so viel Blut, Schweiß und Tränen verspritzt wie aktuelle Nachfolger, aber seinen Wechsel nach München einleitet. Hier findet der bekennend, aber nicht offen schwule TV-Neuling endlich eine Heimat, die den liberalen Geist im konservativen Körper zur Entfaltung kommen lässt.

Aufgelockert von Schwabings Bohème, die seinerzeit dank Freddy Mercury zu Weltruhm gelangt, macht er am wuchtigen Röhrenbildschirm nun das, was heutige Flatscreens mal dringend bräuchten: Unterhaltung mit Herz und Verstand, Bauch und Hirn, Individualität und Massenwirksamkeit. Vermeintliche Gegensatzduette, die 1978 in seiner ersten eigenen Show „Bio’s Bahnhof“ kulminieren, mit grammatikalisch falschem Apostroph zwar, aber einer kosmopolitischen Lässigkeit, die den Granden der Branche von Frankenfeld bis Fuchsberger bei aller Wertschätzung fremd waren.

Mit Dreiteiler, Nickelbrille und frühzeitigem Haarausfall verrührt er sechsmal jährlich donnerstags um 21 Uhr eherne Sehgewohnheiten in einer chaotischen Nonchalance zum Niederknien. Nichts an dieser neunzigminütigen Kraut-und-Rüben-Revue wirkt aus jetziger Sicht choreografiert. Gerade in diesem Durcheinander aber brilliert Bios einzigartige Fähigkeit, im Durcheinander für Ruhe zu sorgen, ohne einzuschläfern. Ein Talent, dass ihn fortan durch wenige, aber einprägsame Sendungen trägt – allen voran „Boulevard Bio“, auf dem er ab 1991 den Übergang der gesitteten Gesprächsformate schwarzweiß verrauchter Tage ins Zeitalter des kommerziellen Trash-Talks 485 Ausgaben austariert.

Wer immer im Wohnzimmerambiente mit Late-Night-Ausblick sitzt (und irgendwann saßen eigentlich alle mal drin), sieht sich über zwölf Jahre hinweg einem Gastgeber genannten Host gegenüber, der sich bei aller ersichtlichen Eitelkeit herzlich egal zu sein scheint. Alfred Bioleks Fragen sind selten Selbstauskünfte und doch zutiefst persönlich. Sie mögen harmlos wirken, fördern jedoch gerade dadurch Unerwartetes zutage. Sein Redefluss ist häufig stockend, aber gerade dadurch organisch. Alles an der beliebten ARD-Sendung zur Nacht wirkt gleichermaßen impulsiv und durchdacht, was 1996 sogar den Talkshowtotalverweigerer Helmut Kohl ins dilettantisch ausgeleuchtete Kölner Studio lockt.

Auch dem damals schon ewigen Bundeskanzler rückt Biolek zwar alles andere als konfrontativ auf die Pelle. Er schafft damit aber etwas Ungewöhnliches: Helmut Kohl wirkt auf alltägliche Art distinguiert. Eine Melange, die nirgends besser zum Ausdruck kommt als bei Alfred Bioleks zweiter Leidenschaft neben dem, besser: parallel zum Reden. Ab 1994, als Kochsendungen noch von prahlerischen Maîtres mit turmhoher Mütze statt Küchenpunks à la Tim Mälzer moderiert wurden, lädt der frankophile Hobbygourmet Prominente aller Gattungen in seine Backsteinkombüse und bruzzelt beim Daydrinking guter Rotweine die Lieblingsrezepte seiner Gäste. Noch ein Schlückchen, Frau Schwarzer? Hinreißend!

Und seltsam.

Denn dass dieser naturbelassene Unterhaltungskünstler den bundesdeutschen Gemütlichkeitsfetisch ins gesamtdeutsche Durcheinander retten half, ist angesichts von Bios Biografie mindestens erstaunlich, aber auch Ausdruck einer wachsenden Durchlässigkeit für abweichende Lebensentwürfe der Nachwendezeit. Ausgerechnet ein schwuler Jude, so wurde zum Glück lange vorm kommunikativen Overkill sozialer Medien kolportiert, versorgt das Fernsehbildungsbürgertum mit bürgerlichem Wohlbehagen? Schwul stimmt. Auch vorm unfreiwilligen Outing durch Rosa von Praunheim auf dem „Heißen Stuhl“ von RTL 1991 hielt Biolek mit seiner Homosexualität jahrelang nicht hinterm Berg.

Aber jüdisch? War zwar Quatsch, scheint für Stereotypenfans aber irgendwie zur Optik dieses Katholiken zu passen – was der wiederum als „große Ehre“ empfand und mit seiner kindsköpfigen Selbstironie konterte, „Ich habe halt nur ein intelligentes Gesicht“. Das ein Gemüt voller Empathie, Humor und Lebensklugheit zum Ausdruck bringt. Brachte, muss man leider sagen. Denn wie seine Sendungen ist Alfred Biolek nach einer sehr langen, sehr erfüllter Teilexistenz im Rampenlicht nun Geschichte.

Immerhin hat sie Spuren hinterlassen. Tiefe Spuren. Fast schon Krater, die das Fernsehen verändert haben. Ohne Biolek wären weder Götz Alsmann noch Reinhold Beckmann, weder das „ZDF Magazin Royal“ noch „Schmeckt nicht, gibt’s nicht“ möglich gewesen. Gut 14 Jahre nach seinem Abtritt von der Fernsehbühne hat ihn der Tod jetzt aus der Realität gerissen, aber sein Erbe wirkt noch lange nach. Darauf einen guten Rotwein. Oder zwei, drei. Prost Bio.

Das Erste erinnert am heutigen Freitag, um 23:55 Uhr im 15-Minütigen Film "Tschüss Bio!" an Alfred Biolek und zeigt ab 0:10 Uhr das 90-minütige Porträt "Mensch, Bio", das am Samstag um 21:45 Uhr auch noch einmal im WDR Fernsehen zu sehen ist. Dort läuft am Samstag um 23:45 Uhr zudem die Hommage "Bahnhof für Bio" mit Anke Engelke und Hape Kerkeling.