Herr Schwarzkopf, als viele Journalistinnen und Journalisten die Ukraine verlassen haben, sind Sie in die Ukraine gereist. Warum?

Wir sind bereits am 13. Februar nach Kiew gereist, weil sich die Anzeichen mehrten, dass Wladimir Putin tatsächlich den Befehl für einen Angriff auf die Ukraine geben könnte. Zunächst haben wir aus der Hauptstadt berichtet, in den Bunkern der Stadt gedreht, das Waffentraining der Freiwilligenverbände begleitet, sind zur belarussischen Grenze gefahren. Ich muss aber ehrlich gestehen, so wie die meisten Ukrainer hatten wir bald das Gefühl: Da passiert gar nichts. Selbst als wir dann in der Ostukraine nahe Kramatorsk in den Schützengräben unterwegs waren und Mörserbeschuss erlebten, dachten wir, das ist alles Säbelrasseln aus Moskau. Auch die Soldaten, mit denen wir direkt an der Front sprachen, sagten uns: "Wir haben diese Gefechte hier seit Jahren – das bedeutet nichts."

Es kam, wie wir inzwischen wissen, anders.

In den Morgenstunden des 24. Februar wurden wir alle eines Besseren belehrt. Wir hörten nicht nur die Einschläge, wir sahen während unserer Live-Berichterstattung die Raketen am Himmel. Am selben Abend haben sich mein Kameramann Festim Bequiri und ich uns in den Nachtzug gesetzt und sind nach Kiew gefahren, wo wir am nächsten Morgen mit Luftalarm begrüßt wurden. Uns war klar, dass Russland versuchen würde, so schnell wie möglich die Hauptstadt einzunehmen – und deshalb hatten wir in Absprache mit der Chefredaktion beschlossen: Hier müssen wir sein, von hier müssen wir berichten – weil sich hier das Schicksal der Ukraine entschieden würde. Ich denke, das war genau die richtige Entscheidung, weil wir so aus erster Hand, aus eigenem Erleben, die Situation jeden Tag mit Liveschalten und Beiträgen abbilden konnten – und unsere Zuschauer nicht auf Informationen vom Hörensagen angewiesen waren.

Wie haben Sie die ersten Tage des Kriegs erlebt?

Die ersten Kriegstage waren Tage voller Ungewissheiten. Die Stadtränder von Kiew standen ja unter Dauerbeschuss, auch in der Innenstadt schlugen mitunter Raketen ein. Die russischen Verbände schienen die ukrainischen Verteidigungsringe durchbrechen zu können. In der Stadt herrschte eine unglaubliche Anspannung, überall waren plötzlich Bewaffnete und Checkpoints – "normale" Menschen waren überhaupt nicht mehr auf den Straßen. Als ich zum Präsidentenpalast hinüberlief und mein Handy in der Hand hielt, landete ich innerhalb von wenigen Augenblicken mit den Händen über dem Kopf und einer Kalaschnikow im Rücken an einer Häuserwand; Soldaten hatten mich verdächtigt, für die Russen zu spionieren. Erst nach einer guten halben Stunde konnte ich sie überzeugen, dass ich kein Spion bin. Wir waren dann jeden Tag mit Kamera und Mikro in der Stadt unterwegs, haben verängstigte, aber auch zu allem entschlossene Kiewer getroffen. Was mich persönlich aber am meisten mitgenommen hat, waren nicht die Sirenen, nicht das Donnern der Geschütze, nicht die ständigen Raketen- und Artillerieeinschläge vor allem im Westen und Norden der Stadt – sondern das, was sich am Bahnhof abspielte: Menschen, die verzweifelt versuchten, irgendwie in einen Zug zu gelangen. Väter, die sich unter Tränen von ihren Ehefrauen und Kindern verabschiedeten. Sie wussten in diesem Moment schlichtweg nicht, ob sie sich jemals wiedersehen werden. Das ist mir sehr nahe gegangen, weil ich ja selbst zwei Kinder habe.

 

"Eine Gewohnheit setzt schnell ein."

 

Wie sieht aktuell ihr Arbeitsalltag aus?

Die Arbeitstage ähnelten sich in ihrer Struktur: Morgens um 6 Uhr ging es meistens los, die ersten Informationen checken – was steht im Morgenbriefing des ukrainischen Generalstabs, was meldet Moskau, worüber berichten ukrainische Kollegen? Um 7 Uhr stand ich dann in der Regel das erste Mal vor der Kamera, in den Folgestunden ebenfalls, bevor es dann zum Drehen losging. Wir hatten morgens meistens noch keinen genauen Plan, was wir machen würden; das haben wir dann immer tagesaktuell entschieden: Krankenhaus, Front, Flüchtlinge, Verteidigungsmaßnahmen. Wichtig war uns, unterwegs zu sein, selbst Eindrücke zu sammeln – und das dann direkt an die Zuschauer weiterzugeben. Das waren oftmals lange Tage, 15 Stunden minimum. Aber man ist natürlich auch die gesamte Zeit über unter Strom.

Der Krieg dauert nun schon etwa 50 Tage an. Empfinden Sie bei all der Brutalität inzwischen so etwas wie, wenn auch traurige, Normalität?

Ja, eine Gewohnheit setzt schnell ein. Die Sirenen, das Artilleriefeuer – man nimmt das zwar noch wahr, macht sich aber kaum noch Gedanken darüber. Auch als ich jetzt zum zweiten Mal – nach einer Woche „Heimaturlaub“ – wieder in der Ukraine war, habe ich mich schnell an das Grauen, an den Anblick massiver Zerstörungen, selbst, so hart das klingen mag, den von Toten gewöhnt. Das ändert sich allerdings immer dann, wenn man als Reporter mit persönlichen Schicksalen konfrontiert wird: Mit dem älteren Mann in Bucha, der mir erzählte, wie seine Nachbarn und deren zwei Kinder von Russen erschossen wurden. Mit der Frau, die in Chernihiv ihren eigenen Mann beerdigte und sein Grab zuschaufelte. Und davon gibt es viele Beispiele.

Wie viele dieser Schicksale lassen sich in Nachrichtenbeirägen unterbringen?

Oftmals berichten wir ja nur in relativ kurzen Nachrichtenbeiträgen darüber; wir haben aber in unserer neuen Sendung "Welt Reporter" die Möglichkeit, solche Dinge ausführlicher zu erzählen, auch mehr Hintergründe und persönliche Einschätzungen zu geben – das ist sowohl für den Zuschauer als auch für mich als Reporter eine spannende Plattform.

Immer wieder hat es Diskussionen über die Berichterstattung deutscher Medien gegeben, etwa bezüglich der Präsenz von ARD und ZDF oder den Berichten von "Bild"-Vize Paul Ronzheimer. Wie nehmen Sie diese Debatte wahr?

Natürlich ist es so, dass auch im Kriegsgebiet eine gewisse Konkurrenz herrscht. Wenn sich ARD, ZDF und andere Sender entscheiden, es ist zu gefährlich, aus Kiew zu berichten – dann ist das so zu akzeptieren und kein Grund für Spott oder Häme. Wichtig ist nur, bei der Berichterstattung bei der Wahrheit zu bleiben und nicht zu versuchen, Dinge mit Fehlinformationen zu kaschieren. Ich möchte hier jetzt nicht ins Detail gehen, denn Kleinkriege unter Reporterkollegen helfen auch nicht weiter. Ich muss aber sagen: Ich habe mit deutschen wie auch vielen ausländischen Kollegen in meiner Zeit in der Ukraine ein sehr gutes Verhältnis gehabt, wir haben uns gegenseitig mit Kontakten und Drehideen geholfen. Und so muss es eigentlich auch sein.

Sie sind jetzt wieder in Washington. Wie schwer fällt es, das Gesehene zu verarbeiten? Und ist eine Rückkehr in die Ukraine denkbar?

Mir fällt die Umstellung auf das "normale" Leben eigentlich nicht schwer, was auch daran liegt, dass die Familie mich auf Trab hält. Aber natürlich lege ich das Thema Ukraine nicht ad acta, ich verfolge weiterhin sehr genau die Entwicklungen im Land und bleibe mit meinen Kontakten on the ground in Verbindung, zum Beispiel mit einem Sanitäter eines Freiwilligenverbandes, einer Soldatin in der Ostukraine, einem Geschäftsmann in Kiew. Das ist für mich wichtig, um weitere Informationen aus erster Hand zu bekommen – und das Gefühl für die Situation vor Ort nicht zu verlieren. Ich gehe ohnehin davon aus, dass ich nicht zum letzten Mal aus der Ukraine berichtet habe. Früher oder später werde wieder vor Ort sein. Der Konflikt wird nicht nur uns Reporter noch lange Zeit beschäftigen.

Herr Schwarzkopf, vielen Dank für Ihre Zeit.

Die Reportage "Das Kriegstagebuch von Steffen Schwarzkopf" steht auf Welt.de zum Abruf bereit.