Ich traf Pleitgen 1992, er war Chefredakteur des Programmbereichs 1, der dem Ersten Deutschen Fernsehen Beiträge zu „Tagesschau“ oder „Tagesthemen“ lieferte, Kommentare, Analysen aus der Wirtschaft, Dokumentationen, die ARD-Sportschau sowie Berichte und Reportagen aus den Auslandsstudios, von Moskau bis Washington besetzte der WDR fast alle wichtigen Schauplätze der internationalen Politik, und solange die Bundesregierung in Bonn residierte, war der WDR auch für die gesamte innenpolitische Berichterstattung zuständig.
Genau so war er: Fritz Pleitgen konnte Menschen „lesen“, der Mensch interessierte ihn immer mehr als Zeugnisse oder Studienabschlüsse, er verließ sich auf seinen Instinkt, seine Zugewandtheit und Nachsicht gegenüber seinen Mitmenschen war vermutlich sein größter Antrieb, sein moralischer Kompass, viele Kolleginnen und Kollegen im WDR haben es ihm mit Respekt und Freundlichkeit abgegolten und jetzt, da die Nachricht von seinem Tod kam, reagierten sie mit tiefer Trauer. Fritz Pleitgen war ein Menschenfreund, einer, der nie vergass, von wo er gekommen war, ein Junge aus einfachen Verhältnissen in Duisburg. Oft sagte er, dann schon als Intendant: „Jemand mit meiner Schulbildung würde heute beim WDR noch nicht mal mehr als Pförtner eingestellt werden“.
Ach, die Pförtner. Einmal ließ sich ein neuer Kollege von Pleitgen den Hausausweis zeigen. „Ja, wenn ich Sie vom Fernsehen kennen würde, hätte ich sie durchgewunken, Herr Pleitchen“. Das war eine der Geschichten, über die gelacht wurde, die zur Anekdote wurde, kein böses Wort, keine Arroganz, nie habe ich ein „Wissen Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?“ von ihm gehört. Dann noch die Sache mit dem Sie. Es gab nur ganz wenige Menschen im WDR, die Fritz Pleitgen duzte. Die hippieske Alle- und Jeden-Duzerei mochte er nicht, er hielt eine freundliche Distanz, dies gab ihm eine besondere Aura, er wollte sich nicht kumpelig geben, nicht anbiedern. Und das war auch sein Credo fürs Programm. Als der WDR das von ihm initiierte, später erfolgreichste junge deutsche Radio 1Live launchte, sagte Pleitgen: „Wir schleimen und wanzen uns nicht ran“.
Der Pilot blieb auch bei schwersten Turbulenzen cool, ging etwa – was nicht mal selten geschah - ein von ihm moderierter „ARD-Brennpunkt“ mit desaströsen technischen Pannen daneben, wurde nicht geschimpft oder geschrieen, es wurde niemand abgekanzelt oder gar gefeuert, irgendwie setzte Pleitgen den Flieger trotz allem noch gekonnt auf die Landebahn.
Und mit den Vasallen war es so: Wir kamen von einer Sendung aus den WDR-Katakomben ins Büro, spätabends, das Telefon klingelte, ein leitender WDR-Redakteur rief an, gratulierte zur gelungenen Sendung, „FP“ oder „der Fritz“, wie wir engen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ihn intern nannten, bedankte sich artig, legte auf, grinste in die Runde und sagte: „Was für ein Kriecher“.
Einer, der sich auf das "Ja, aber" verstand
Auf dem Fernsehschirm wirkte Fritz Pleitgen ernst und konzentriert, hinter den Kulissen wurde viel gelacht. Er war ein meisterhafter Geschichtenerzähler, gerne abends, wenn sich das WDR-Filmhaus längst geleert hatte, beim Grappa und Nüssen, die kiloweise in ihm verschwanden. Wir haben immer wieder gerne zugehört, die Storys aus Moskau und Ostberlin, der Trick, mit dem er Breschnew auf sich aufmerksam machte oder wie souverän Ronald Reagan reagierte, als Pleitgen ihm öffentlich eine ausdrücklich von der US-Administration verbotene Frage stellte. Dass Fritz Pleitgen ein unvoreingenommener Journalist war, einer, der sich auf das „Ja, aber...“ verstand und nicht als Stichwortgeber oder Sympathisant, taugt durchaus noch immer als Maßstab für Journalistinnen und Journalisten, besonders in Zeiten, in denen das „Ja, aber...“ augenscheinlich bei der Interviewführung immer seltener zu hören ist.
Pleitgen war ein international gewandter Korrespondent, er lebte auf in Moskau, New York, Washington, das muffige Ostberlin hingegen war ihm ein Graus. In einem Punkt bediente er ein sehr deutsches Klischee: Pleitgen war enorm fleißig, als Reporter, als Chefredakteur, als Intendant, ein Workaholic, dem der Job wichtiger war als fast alles andere. An den Wochenenden arbeitete er durch, moderierte den Presseclub, bearbeitete die unter der Woche liegengebliebene Post. Das ging natürlich auch zu Lasten der Familie, das räumte Pleitgen in dem Podcast, den wir im Sommer 2021 aufgezeichnet haben ("Fritz Pleitgen – sein Leben"/ARD-Audiothek) unumwunden ein, allerdings zu spät, wie er selber sagte.
Er war eben ein Journalist durch und durch, neugierig, immer auf Empfang und auch auf Sendung, einmal befragte er in Dortmund auf der Hinfahrt zum WDR-Studio den Taxifahrer nach der aktuellen Stimmung in der Stadt, um mir auf dem Rückweg das soeben Recherchierte mitzuteilen. Ein leibhaftiger Reporter, ein Mensch mit Sendungsbewusstsein, aber kein Oberlehrer, kein Agitator, kein Parteischranze, auch wenn er wegen Willy Brands Ostpolitik in die SPD eingetreten war, wozu er immer stand, auch wenn er das später dann doch selbst-kritisch sah, ein Parteibuch zu besitzen.
Als Programmdirektor und Intendant entwickelte Pleitgen sich zu einem Antreiber und Visionär, er sah den Platz der ARD vor allem in der Information, unabhängig, kritisch, immer die Perspektive des Publikums im Blick, das war seine Idee für die Zukunft, getreu seines Mottos „Think big“ wich er Diskussionen und auch Streit mit Politik, Gremien oder Medienverlagen nicht aus, hatte aber immer auch den Kompromiss im Blick, das Gemeinsame und Verbindende.
Streitbarer Kämpfer für die Öffentlich-Rechtlichen
Und bis zuletzt war Fritz Pleitgen irgendwie berufstätig. Er hörte einfach nicht auf, sich zu kümmern, um den Öffentlich-rechtlichen Rundfunk, um schwer erkrankte WDR-Menschen, als Geschäftsführer der Ruhr 2010 um das Ruhrgebiet, als Präsident der Deutschen Krebshilfe. Er schrieb Bücher über das deutsch-russische Verhältnis, trat in Talksendungen auf, gab Interviews, äußerte sich zu aktuellen politischen Themen, Russland, Ukraine, konnte auch Fehleinschätzungen einräumen, zum Beispiel über Putin, las jeden Tag mehrere internationale Zeitungen, war online mit vielen Weggefährten verbunden, wusste immer genau, was im WDR lief. Und was nicht.
Es gibt nicht wenige in der ARD, die sich in der gegenwärtigen Situation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks einen wie Pleitgen wünschen, einen Menschen, der mir immer wieder sagte: „Gehen Sie aufrecht, drücken Sie den Rücken durch“ oder „Gehen Sie langsamer, sonst denkt noch jemand, wir hätten es eilig“. Ein streitbarer Kämpfer für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, einer, der vor allem Politik und Information verständlich machen wollte für ein möglichst großes Fernseh-, Radio- oder Online-Publikum. Ein großartiger raumfüllender Kerl, großzügig, kein kleinkarierter Spesenabrechner oder Beckmesser, ein Macher, schlagfertig, beeindruckend schnell im Erfassen von Stimmungen und Zusammenhängen, der auch den Mächtigsten auf Augenhöhe begegnete, Gorbatschow, den deutschen Bundeskanzlern oder dieses ikonische Foto: Pleitgen vor Nixon und Breschnew, beide schauen zu ihm auf, er war nun mal über 1,90 Meter groß.
Und trotzdem blickte er nie auf Andere herab, da war immer ein großer Respekt für die sogenannten kleinen Leute, ein Terminus, der ihm nicht über die Lippen gegangen wäre, mitfühlend, tief betroffen vom Sterben der 21 jungen Menschen bei der „Loveparade“, für das er nicht verantwortlich war, aber als Geschäftsführer der Ruhr 2010 Verantwortung übernahm. Seine Geringschätzung galt Feiglingen, Wegduckern und Wendehälsen. Im WDR galt ihm weithin Anerkennung, kein Vorgesetzter kann es allen recht machen, aber die Belegschaft wusste, dass dieser Mensch da oben an der Spitze für den WDR ackert und mit geradem Rücken steht, für den öffentlich-rechtlichen Rundfunk, für die Information, für den Journalismus, für das Publikum, für alle, die den öffentlich-rechtlichen Rundfunk finanzieren und möglich machen.
Am Ende war da eine schwere Krankheit, Bauchspeicheldrüsenkrebs, das machte er als Präsident der Krebshilfe öffentlich, aber als ich ihn fragte, wie sehr er mit der belastenden Krankheit hadere, sagte er in seiner typisch nonchalanten Art, wie er sich denn darüber beschweren könne, wo er doch ein so erfülltes Leben gelebt habe, mit einem wunderbaren Beruf, einer wunderbaren Familie, als Intendant eines Senders, der eine Art zweite Familie für ihn war?