Die leisen Töne, in unserer tosenden Zeit gehen sie zuweilen unter. Davon können Fans leiser, dialoglastiger, inhaltsgetriebener TV-Formate ein noch so wehmütiges Lied singen: je lauter, effektlastiger, oberflächlicher Fernsehen ist, desto leichter dringt es zur Masse der Menschen durch. Als der notorisch flüsternde Degeto-Chef Thomas Schreiber ans Mikro eines Hamburger Bucht genannten Veranstaltungssaals mit Elbblick tritt, herrscht folglich weiter Unruhe im Publikum.

Auch seine stillen Vergleiche von Ebbe und Flut, dem abziehenden Fluss und aufwallenden Meer, bisschen Seefahrerromantik im popkulturellen Ambiente gehen noch unter im Gemurmel des Degeto-Campus, auf dem die ARD wie im Vorjahr ihre Wettbewerbsbeiträge beim Filmfest Hamburg vorstellt. Dann aber werden sie wach, die Kreativen und Redakteure, Produzentinnen und Reporter, denn ihr Gastgeber kommt in aller Ruhe zum Punkt.

Die HafenCity nämlich, wo auf den Ruinen längst vergangener Zeiten das größte Neubaugebiet Europas entstehe, sei eine Metapher für die Transformation der Medien. Und weil sich gerade auch sein ehemaliges Funkhaus von Vetternwirtschaft, Klüngelei, politischer Einflussnahme zu zerlegen droht, werden die Leute kurz mal aufmerksam. Schreiber jedoch, bis 2021 NDR-Programmchef Kultur/Fiktion, meint dann doch nur das Angebot seines neuen Arbeitgebers mit Sitz in Frankfurt.

Es soll sich weiter wandeln, will er damit sagen und gut 15 Jahre nach Vorwürfen von „Kitsch“ bis „Süßstoff“ zeigen, „was wir am besten können: Filme“. Um das nicht nur zu behaupten, sondern zu belegen, ist er mit Redaktionsleiter Christoph Pellander vom Main an die Elbe gereist, bittet neben Filmfest-Chef Albert Wiederspiel reihenweise Filmverantwortliche aufs Podium, lässt ansonsten aber sprechen, wofür er anstelle Christine Strobls seit Mai 2021 zuständig ist: fiktionale Unterhaltung, die es mit jener der Streamingdienste aufnehmen kann.

Kann sie das?

Wenn Vielfalt ein Indikator ist, schon! Sechs Wettbewerbsbeiträge hat die Degeto der fernsehmedialen Alma Mater auf den Campus unweit der weltkulturellen Speicherstadt mitgebracht. Sechs Werke, die das Niveau seiner Ahnen – besonders den Christiane-Neubauer-Fanclub-Vorsitzenden Hans-Wolfgang Jurgan und Jörn Klamroth – nach der Jahrtausendwende niemals erreicht hätten. Sechs Serien, Filme, Mehrteiler also, die Aufmerksamkeit verdienen.

„Martha Liebermann“ zum Beispiel, mit der unverwüstlichen Thekla Carola Wiedt in ihrer letzten Rolle als greise Witwe des Impressionisten, die sich mit dezenter Intensität zwischen KZ und Kunst entscheiden muss. Klassischer Degetodramenstoff eigentlich. Doch wie Regisseur Stefan Bühling vom tschechischen Set voller Hakenkreuzfahnen und Judensternen erzählt, wie er das Wiedererwachen rechter Umtriebe mit ihrer Eskalation vor 80 Jahren vergleicht und dabei noch leiser spricht als Schreiber, da wird deutlich: Degeto kann noch immer Kitsch und Süßstoff, aber nicht mehr so selbstreferenziell, selbstverliebt, selbstvergessen.

Dafür muss man sich zwar erst durchs gefühlsverminte „Wunder von Kapstadt“ mit Historytainment-Allzweckwaffe Sonja Gerhardt als hübsche Ärztin im Schatten des südafrikanischen Herzchirurgie-Pioniers Barnard (Alexander Scheer) quälen, das Misogynie und Rassismus der Sixties in Zuckergusskulissen nachbaut. Aber spätestens, als Regisseurin Franziska Buch per Video von ihrer Mutter erzählt, die ohne Vatis Erlaubnis keinen Führerschein machen durfte, zeigt sich in Hamburg: Der neuen Generation Degeto-Filmschaffender ist an mehr gelegen als Quote. Es geht um Nachhaltigkeit, Emanzipation, Abwechslung, Diversität – am besten alles in einem und gern mal mit Humor.

Dafür stehen zwei Filme, die das Erste ausgerechnet am Freitagabend zeigt, jahrelang ein Totenacker feuilletonistischer Güte. In „Einfach Nina“ will der achtjährige Niklas (Arian Wegener) kein Junge mehr sein und stellt seine Mutter (Friederike Becht), mehr aber noch den Vater vor Entscheidungen, die Regisseurin Karin Heberlein nach eigenem Drehbuch mit heiterer Gewissenhaftigkeit verhandelt. Und in „Klima Retten für Anfänger“ stellt F4F-Aktivistin Lilly ihren Eltern (Tanja Wedhorn/Götz Schubert) ein Ultimatum: Umweltschutz oder Schulabbruch.

Dem Trailer zufolge ist das ebenso drollig wie dringlich, kriegt aber erst durch die Suada der jungen Hauptdarstellerin Ella Lee Gewicht: „Die Klimakatastrophe kommt“, knallt sie dem Saalpublikum vor die veganen Snacks, „da haben wir das Recht und die Pflicht, wütend zu sein“. Eine Wut, die der Sechsteiler „37 Sekunden“ ganz humorlos vermittelt. 37 Sekunden dauert die sexuelle Begegnung eines alternden Rockstars mit seiner halb so alten Kollegin, bei der das Publikum selbst entscheiden soll, ob es einvernehmlich oder Vergewaltigung ist.

„Wir wollten es den Zuschauern so schwer wie möglich machen“, erklärt Autorin Julia Penner die Herausforderung des „moralischen Kompasses der Zuschauer“, wie Drehbuchkollege David Sandreuter ergänzt. Beides gilt ganz ohne #MeToo-Faktor auch für den Zweiteiler „Ein Schritt zum Abgrund“, der die weltweit kopierte BBC-Serie „Doctor Foster“ ums Thema Untreue unter Alexander Dierbachs Regie Anfang 2023 für Erste übersetzt. Und genauso betrifft beides das, was auf dem Degeto-Campus unter „Werkstatt“ firmiert: Die sechsteilige Culture-Clash-Komödie „Lamia“, der fünfteilige Knastthriller „Asbest“ oder Staffel 2 von Jan Georg Schüttes Impro-Groteske „Kranitz“.

Alles eher für digitale als lineare Zielgruppen produziert und damit mindestens so cool wie „Asbest“-Regisseur Kida Ramadan, der die Degeto-Spitze auf dem Podium erst mit Goldkette zum Ghettoslang aufmischt und dann mit zwei Babos raus rauchen geht, als läge die HafenCity in Neukölln. Schreibers transformiertes Fernsehen muss also gar nicht leise sein. Ach, eigentlich darf es ohnehin fast alles. Sogar Heino Ferch zum Kommissar der deutsch-norwegischen Krimiserie „Die Saat“ machen oder sich wie Gabriela Sperl mit „Herrhausen“ erneut an der RAF abarbeiten. Hauptsache Abwechslung – inhaltlich, ästhetisch, personell. Besser als früher wird es so allemal.