Dass die Fußball-Weltmeisterschaft in diesem Jahr anders wird als alle vorherigen, wird schon beim Blick auf den Kalender deutlich. Oder auch beim Blick ins Pressedossier des Südwestrundfunks, der innerhalb der ARD die Federführung für die WM-Berichterstattung innehat. Neben Vorwort, Spielplan und Vorstellung des Teams findet sich darin auch der Punkt "Kritische Berichterstattung". Und ARD-Programmdirektorin Christine Strobl versichert zusammen mit ZDF-Chefredakteurin Bettina Schausten in einem gemeinsamen Statement, dass die Vorfreude getrübt sei und man, natürlich, "mehr aus nur Fußball im Blick" haben wird.

Vor dem Hintergrund verletzter Menschenrechte, stark eingeschränkter Frauenrechte und der Kriminalisierung Homosexueller wird in den kommenden Wochen wohl ganz besonders darauf geachtet werden, wie die berichtenden TV-Anbieter, zu denen neben ARD und ZDF auch die Telekom mit ihrer Plattform MagentaTV gehört, mit dem kaum zu lösenden Zwiespalt umgehen werden, über Fußball zu sprechen, ohne dabei die Realität abseits des Sports außen vor zu lassen.

Und so überrascht es dann auch nicht, dass die Reportagen und Dokumentationen über das WM-Gastgeberland Katar im Vorfeld des Turniers so vielzählig waren, dass es kaum möglich ist, alle von ihnen zu sehen. Zumindest einige davon sollte man aber durchaus angeschaut haben. Eine davon heißt "Katar - warum nur" und stammt vom ehemaligen Nationalspieler und heutigen ARD-Experten Thomas Hitzlsperger. Für seinen Film, der am Montagabend im Ersten lief, sprach er nicht nur mit Manuel Neuer und Ilkay Gündogan, sondern auch mit Menschen in Katar und Nepal, darunter mit einer Frau, deren Mann auf einer WM-Baustelle ums Leben kam. "Ich war froh, dass ich das gemacht habe", sagte Hitzlsperger nach den Dreharbeiten zur dpa, "weil ich sagen kann: Wenn die WM losgeht, habe ich mich kritisch damit auseinandergesetzt."

Nein, an Kritik spart sein Film gewiss nicht. Immer wieder findet Thomas Hitzlsperger deutliche Worte oder ordnet die Aussagen ein. Als Gündogan, gerade erst vom Bundestrainer für die WM nominiert, erklärt, es sei "außerhalb meines Bereichs", ob es richtig oder falsch gewesen ist, die Weltmeisterschaft nach Katar zu vergeben, kommentiert Hitzlsperger aus dem Off: "Die Verantwortung abzuschieben, das ist mir zu wenig." Am Ende des Films blickt er entschlossen auf die Skyline von Doha. "Die Weltmeristerschaft darf künftig nur an Länder vergeben werden, die Menschenrechte respektieren und einhalten", sagt er. "Sonst macht sich der Fußball weiter mitschuldig."

Katar - warum nur © SWR/NGLOW / Nick Golüke Thomas Hitzlsperger vor der Skyline in Doha.

Die Frage sei erlaubt: Macht sich auch Hitzlsperger letztlich mitschuldig, wenn er in den nächsten Wochen im Fernsehen vor allem vor allem über Spielzüge, Tore und Fouls fabulieren wird und weniger über Menschenrechte? Ein Zwiespalt, mit dem offensichtlich auch ZDF-Journalist Jochen Breyer hadert. Auch die Dokumentation, die er zusammen mit der Autorin Julia Friedrichs über die Weltmeisterschaft in Katar gemacht hat, endet nachdenklich. "Wirst du die WM jetzt eigentlich schauen oder nicht?", fragt Breyer den Schauspieler Matthias Brandt, der für den Film zuvor noch den Fußballtrainer eines Dorfvereins mimte. "Hm, die Frage habe ich befürchtet", antwortet dieser und zuckt mit den Schultern. "Keine Ahnung."

Es wäre freilich schon paradox, würden ARD und ZDF das TV-Publikum zum Boykott der Fußball-WM aufrufen, immerhin haben sie viel Geld für die Übertragungsrechte bezahlt und erhoffen sich von den Spielen kurz vor Weihnachten noch einmal starke Quoten. Vermutlich nicht ganz ohne Grund wähnte die "Süddeutsche Zeitung" jüngst eine "Doppelmoral". Immerhin: All diese Dokumentationen leisten einen wichtigen Beitrag zur Aufklärung der Umstände, unter denen diese Weltmeisterschaft ausgerichtet wird. Vor allem Breyers Film sorgte in den vergangenen Tagen rund um die Ausstrahlung für große Beachtung, allen voran durch die Aussagen des früheren Nationalspielers und heutigen WM-Botschafters Khalid Salman, nach dessen Auffassung Schwulsein ein "geistiger Schaden" sei, "a damage in the mind".

Sehenswert ist die ZDF-Dokumentation, produziert von der Kölner btf, aber auch darüber hinaus. Etwa, wenn der ehemalige Fifa-Boss Sepp Blatter von dem Sportjournalisten auf Korruption im Fußball-Weltverband angesprochen wird. "Nein", sagt Blatter, "weggeschaut habe ich nicht - aber ich habe nicht insbesondere hingeschaut." In einer anderen Szenen steht Jochen Breyer der Schweiß im wahrsten Sinne des Wortes auf die Stirn geschrieben. "Es ist so unfassbar heiß, mir läuft alles runter", stöhnt der Journalist, der in der katarischen Hitze steht - wohl gemerkt im Sommer, dem ursprünglich geplanten WM-Termin. Es bedarf in diesem Augenblick nicht vieler Worte, um zu verstehen, dass der Plan, die Weltmeisterschaft nach Katar zu vergeben, ein törichter war.

Blüms beeindruckender "Stern TV"-Bericht

Und manchmal braucht es nicht einmal eine Viertelstunde, um zu diesem Urteil zu kommen. Das beweist eine "Stern TV"-Reportage, die bereits vor sieben Jahren lief, die aber in jedem Fall angesehen werden sollte, bevor in wenigen Tagen erstmals der Ball in Katar rollen wird. Der inzwischen leider verstorbene CDU-Politiker Norbert Blüm reiste damals im Alter von fast 80 Jahren nach Katar - nicht dorthin, wo alles glänzt und glitzert, sondern auf die WM-Baustellen und Unterkünfte der Arbeiter, von denen Tausende ums Leben gekommen sein sollen.

Norbert Blüm in Katar © RTL / Stern TV Der ehemalige Arbeits- und Sozialminister Norbert Blüm berichtete schon 2015 in "Stern TV" von den Arbeitsbedingungen in Katar.

"Die, die in den Stadien jubeln, sollen sich mal daran erinnern, wie die Stadien zustande gekommen sind", erklärte der langjährige Arbeits- und Sozialminister und prangerte die Missstände mit deutlichen Worten an. "Die Arbeiter haben nichts. Die leben hier auf engstem Raum. Nichts was ihnen gehört, keinen privaten Raum. Und die sanitären Verhältnisse sind unter aller Sau!" Zu den Unterkünften der Arbeiter saget Blüm: "Scheißhaus und Dusche für die Arbeiter und Logen für Herrn Blatter. Jetzt frage ich den Herrn Blatter: Hat er sich das vorgestellt, als er die Weltmeisterschaft nach Katar vergab?" Sein Fazit: "Ich wünsche, dass der Herr Blatter hier mal 14 Tage lebt. Dann vergibt er vielleicht nicht mehr Weltmeisterschaften in Länder, in denen solche Zustände sind. Zur Strafe würde ich dem ganzen FIFA Präsidium wünschen: Ein halbes Jahr hier!"

Nach seinem Besuch in Katar machte Norbert Blüm klar: "Hier siehst du Menschen, die entwürdigt werden. Ausgebeutet, zurück in die alte Sklavengesellschaft. Und das mit Hilfe des hoch angesehenen Fußballs. In diesem Land kann keine Fußball-Weltmeisterschaft stattfinden, wenn der Fußball sich nicht selbst um seinen guten Ruf bringen will." Die WM erlebt Norbert Blüm leider nicht mehr. Aber seine eindringlichen Worte bleiben glücklicherweise im Ohr.

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