Filmfestivals sind – abseits vom roten Teppich im Blitzlichtgewitter – meistens intransparente Veranstaltungen. Hinter den Kulissen barocker Kinosäle fällen prominente Jurys undurchsichtige Entscheidungen über kunstvolle Fiktionen oder Dokumentationen, ihre Hauptverantwortlichen und gelegentlich sogar jene fernab der Kameras. Baden-Baden ist da ein wenig anders. Nicht nur, weil die Thermalquellen der alten Residenzstadt seit Römerzeiten schon für gesellige Entspannung sorgen; sie hat sich bis ins kalte Dauerkrisenjahr 2022 bewahrt.

Ganz locker sitzt er also da – der große, ach: größte Künstler des deutschen TV-Programms unserer Tage – und redet über das, was er ansonsten wohl nur im stillen Kämmerlein bespräche: den ersten Wettbewerbsbeitrag zur TeleVisionale. So heißt das örtliche Fernsehfilmfestival, seit es der Fernsehfilmfestivalbesessene Urs Spörri mit seiner Geschäftsführerin Daniela Ginten erst übernommen, flugs umgekrempelt, aber irgendwie im Stil der vergangenen 33 Jahre erhalten hat, seit es nach jahrzehntelanger Rundreise in Baden-Baden heimisch wurde.

Von mehr als 200 Ursprungskandidaten hat Spörri gemeinsam mit mehreren Auswahlkommissionen nicht nur zehn Spielfilme arrivierter Regisseure und weitere fünf für den Nachwuchspreis MFG vorsortiert, sondern erstmals fünf Serien. Die allerdings kommen – passend zur verspäteten Aufnahme ins Baden-Badener Programm – erst Donnerstag unter die Augen der gestrengen Jury. Jetzt sind erstmal Einzelstücke an der Reihe. Und kein Geringerer als ihr Präsident Dominik Graf darf sie vor Publikum begutachten.

Dominik Graf: Der Fahnder. Dominik Graf: Die Katze. Dominik Graf: das Reihengenie ("Frau Bu lacht"). Dominik Graf: Das Seriengenie ("Im Angesicht des Verbrechens"). Jetzt also Dominik Graf: der Schiedsrichter. Und was sagt dieser Rebell von 70 Jahren im Runden Saal des prächtigen Kurhauses über Isabel Kleefelds Ehe-Thriller „Sugarlove“ zum Auftakt dieser televisionären Woche: „Spannender Film“. Aufatmen beim Hauptcast plus Regie und Drehbuch in Reihe 1. „Aber ich hätte ihn anders genannt.“ Sein Vorschlag an die 100 privaten Zuschauer auf den Stühlen dahinter: „Die Erlaubnis.“

So kreativ geht sie also los, die öffentliche Diskussion der fünfköpfigen Jury minus Sandra Hüller (die familienbedingt absagen musste) plus Vertreterin einer Filmhochschule (also ein paar Jahre unterm Altersschnitt). 45 Minuten Fachgespräch über einen ARD-Film mit Mann (Fritz Karl), der die versiegte Lust seiner Frau (Barbara Auer) einvernehmlich per Escort-Girl (Cosima Henman) kompensieren will, bis die Ménage-à-Trois explodiert. Zum Herzerfreu der Jury? „Gute Unterhaltung“, befindet der Vorsitzende. „Wohlstandverwahrlosung erotischer Art“, pflichtet ihm die Filmtheorie-Professorin Lisa Gotto zur Linken bei.

TeleVisionale 2022 © Sophie Schüler Öffentliche Jurysitzung mit Dominik Graf bei der TeleVisionale in Baden-Baden.

„Gab es eigentlich eine Intimitätskoordination?“, will Podcaster Yugen Yah zur Linken von Regisseurin Kleefeld wissen, bevor die energische Filmstudentin Karls „Harmoniesucht“ als „Konfliktscheu, also Gewalt“ entlarvt. „Seine Passivität macht mich wahnsinnig.“ Es ist ein Hin und Her und Her und Hin. Kompetentes Meinungspingpong einer maximal diversen Jury (zwei People of Colour, drei Frauen, sogar zwei alte weiße Männer) ohne einander ins Wort zu fallen oder ähnlich respektlos zu sein.

Ohne die Filmverantwortlichen im Saal ist natürlich davon auszuggehen, dass intern bis zur Preisverleihung am Freitagabend auch mal robuster gestritten wird. Doch obwohl sie auch beim Expertengespräch übers zweite Werk zugegen sind, ist dieser Blick in den Festivalmaschinenraum hochinteressant. Ob Preisrichter anders preisrichten, wenn potenziell Preisgerichtete fünf Armlängen entfernt sitzen, ließe sich selbst mit der Heisenberg’schen Unschärferelation nicht beurteilen, aber wenn Regisseur Matti Geschonneck „die Uneindeutigkeit Ihrer Sichtweisen“ auf seine „Wannseekonferenz“ lobt, was Drehbuchautor Markus Vattrodt sogar „beglückend“ nennt, zeigt sich: Geschmäcker sind nicht nur verschieden, es lässt sich gesittet darüber streiten, ohne persönlich zu werden.

Wobei diese Harmonie natürlich allenfalls Beifang ist im Schleppnetz der mutmaßlich besten Fernsehfilme des laufenden Jahres. Denn abseits inhaltlicher Qualitätsfragen im Schatten ökonomischer Quantitätszwänge geht es in Baden-Baden natürlich nicht nur nebenbei ums gesellige Get-together von Kunst und Kritik, Angebot und Nachfrage, Publikum und Filmschaffenden. Im neoklassizistischen Kurhaus finden sie fünf Tage auf engstem Raum auch physisch zueinander. „Schon wegen der Räumlichkeiten sind wir ein familiäres Festival“, sagt dessen Leiter Urs Spörri im Gewirr der barocken Kurhausgänge und wirkt dabei wie immer gehetzt, aber tiefenentspannt.

Von der ersten Vorführung vor zehn („Honecker und der Pastor“) über die Black Box Baden-Baden mit Regisseur Jan Josef Liefers am Nachmittag bis zur Debatte von MFG-Juror Sönke Wortmann zu Sophie Linnemanns Kleines Fernsehspiel „The Ordinaries“) um neun ist Spörri praktisch überall immer dabei und trifft praktisch immer überall auf rund „500 Professionals“, wie er die geladenen Gäste im Kreis eintrittsfreier Ottonormalbesucher nennt. Teilweise bis in den Morgen. Um elf nämlich bittet die TeleVisionale zum Nachtgespräch ins Kaminzimmer des benachbarten Parkhotels. Und hier darf nicht nur zwanglos geplaudert, sondern auch noch hemmungslos geraucht werden.

Endlich, möchte man sagen. Endlich ein Stück traditioneller Atmosphäre eines uralten Festivals, das 1964 an wechselnder Stelle von ketterauchenden Männern Filme bewerten ließ. In zwei Tagen dann kommen sogar Serien hinzu, unter anderem von Streamingdiensten wie RTL+ und Sky, digitale Bilderstürmer also, lose ins öffentlich-rechtliche Angebot gestreut. „Wenn man zehn Filmstudierende fragt, ob sie lieber Kino oder Netflix machen, sagen neun von zehn Netflix“, meint der junge David Preute über seinen MFG-Beitrag „Rogue Trader“ im anschließenden Trialog. „Oh, echt?“, fragt sein Juror Wortmann zwei Sessel weiter, „das ist ja enttäuschend“. Aber eine Realität, die auch in Baden-Baden angekommen ist. Gottlob.