Besser spät als nie. Baden-Baden, sagt Hans-Jürgen Drescher unterm Kuppeldach des prächtigen Kurhauses, „ist auf der Höhe unserer Zeit angekommen“. In seiner Funktion als Präsident der Deutschen Akademie der darstellenden Künste fügt er noch flugs „endlich“ hinzu und ergänzt für alle, die es verpasst haben: „Im 21. Jahrhundert.“ Dass fast ein Viertel davon bereits Geschichte ist und mit ihm ein Leitmedium alter Prägung, dem meist „altes“ vorangeht, dürfte dem Veranstalter des alten Fernsehfilmfestivals Baden-Baden schon vor seiner zweiten Eröffnungsrede aufgegangen sein.

Aber Serien erst nach dem Neustart als TeleVisionale ins Programm zu nehmen: wie soll man das nennen – verspätet, verschlafen, verträumt? Egal! Denn jetzt sind sie ja da und das sogar mit eigenem Wettbewerb vor eigener Jury. Nach dreieinhalb Tagen „Film- und Serienfestival“ mit Fokus auf ersterem, begrüßt Festival-Leiter Urs Spörri in seiner unnachahmlichen Mischung aus kuratierendem Ultra und moderierendem Administrator also Lavinia Wilson, die für letzteres in große Fußstapfen tritt.

Keine 60 Minuten zuvor saß schließlich der raumgreifende Regie-Revoluzzer Dominik Graf im Zentralsessel seiner sechsköpfigen Filmjury; jetzt nimmt die feingliedrige Schauspielerin Lavinia Wilson dort Platz, und dass man sich beim Beschreiben der Ausnahmeerscheinung im Gegensatz zum zweifachen Vater Graf verkneifen muss, ihre (drei) Kinder ins Feld zu führen, sagt schon einiges aus über die Branche und ihr Familientreffen. Mit mindestens zehnjährigem Verzug hat Baden-Baden Serien im Programm, und schon die erste knüpft nahtlos ans Kernthema der vorherigen Filmdiskurse an.

Tommy Wosch © Sophie Schüler Tommy Wosch
„Faking Hitler“ heißt Tommy Woschs Parforceritt durchs Gestrüpp der Hitler-Tagebücher, die den „Stern“ vor 40 Jahren in Echtzeit von Pulitzerpreis auf Provinzposse stutzte. Ein „Schtonk!“-Remake als Sechsteiler, und das von RTL+? „Tolle Unterhaltung“, schwärmt die Chefjurorin. Moritz Bleibtreu als Konrad Kujau? „Grandios“ pflichtet ihr Schweizer Berufs- und Jurykollege Robert Hunger-Bühler bei. Der ganze Pilotfilm? „Super!“, findet Serienjunkies-Gründerin Hanna Huge. Trotz einer aufgepfropften Lovestory herrscht fast euphorische Einigkeit.

Bis die Filmstudentin im Sessel links vor Lampenfieber leicht wackelig, aber haltungsstark zu bedenken gibt, was zuvor bereits sieben von zehn Filmbeiträgen zuteilwurde: warum eigentlich haben sich sämtliche Hauptdarstellerinnen der Regisseure Baumann/Groß gleich in Folge 1 ausgezogen, woraufhin die Casterin Karimah El-Giamal am anderen Ende der Sitzgruppe bemängelt, dass eine blutjunge, statt gestandene Frau in die fiktionale Beziehungskiste der realsatirischen Story steigt.

Die Podiumsdiskussion bleibt anschließend so anregend, fruchtbar, kontrovers, doch gesittet wie fast alle öffentlichen Jury-Sitzungen zuvor. Umso deutlicher treten zwei Kernelemente der TeleVisionale zutage: Scheitern als Sujet mit Frauen, die (oft latent, öfter sichtbar) männliche Gewalt erleben – mit einer Chuzpe am Rande der Rauflust angeprangert von den Hochschuldelegationen. Und während sie bereits in 40 Prozent der Wettbewerbsfilme Vergewaltigungen erkannt haben, wird auch die Hauptdarstellerin des zweiten Serienbeitrags „Eldorado KaDeWe“ nach knapp abgewendeter Misshandlungserfahrung bildgewaltig verprügelt.

Das sagt zunächst mal wenig übers – nahezu einhellig gelobte – Niveau des sechsteiligen Fiebertraums der Zwischenkriegsjahre aus, mit dem Julia von Heinz in vielerlei Hinsicht Formatgrenzen sprengt. Worüber es Bände spricht: wie modern(isiert)e Film- und Fernsehfestivals soziokulturelle Entwicklungen nicht nur auf-, sondern annehmen. Und da haben sie am letzten TeleVisionale-Tag noch gut zu tun. Während Philipp Kadelbachs Terror-Drama „Munich Games“ strukturelle Gewalt eher ideologisch definiert, wird sie in Jan Georg Schütte Impro-Groteske „Das Begräbnis“ mit jedem Teil maskuliner, bevor sich toxische Männlichkeit des ästhetisch beispiellosen Sky-Kunstwerks „Der Pass 2“ in ritualisierter Brutalität gegen weibliche Opfer entlädt.

Bleibt abzuwarten, wie Jury und Publikum damit umgehen, aber in einem Punkt sind sich Film- und Serienbeobachtende einig: Weder weibliche Nacktheit noch Gewalterfahrung ist an sich bedenklich. Als während einer hitzigen Debatte zur Filmdystopie „Hyperland“ das vergiftete Wort „Bilderverbote“ unter der neoklassizistischen Kuppel herumirrte, war die Kritik an der Wortwahl entsprechend größer als das, was sie kritisieren sollte; das Serienschiedsgericht allerdings empört sich verlässlich über die Sexualisierung diverser Protagonistinnen.

Dessen Vorsitzende muss deshalb am zweiten Einsatztag schon frühmorgens monieren, „Munich Games“ führe sein männliches Personal durchweg „im beruflichen Umfeld ein, aber die weibliche Hauptfigur beim Vögeln“. Das zugehörige „WTF“ kann sich Lavinia Wilson zwar gerade noch verkneifen. Es brächte aber auf den Punkt, wie kritisch die Baden-Badener Jurys konventionelle Perspektiven auf Menschen und Materie einordnen, wie wichtig also das ist, was der „Thinktank: Die Zukunft des Fernsehens“ vom Verband der deutschen Drehbuchautoren tags zuvor beschlossen hat.

Ein „Baden-Badener Manifest“ nämlich, mit dem Kreative, Produzierende und kreativ Produzierende im Nachgang der TeleVisionale verlautbaren wollen, was sie sich von Auftraggebern aller Art erhoffen. Sinngemäß: transparente Planungssicherheit, kommunikatives Zutrauen, Feedbackkultur auf Augenhöhe selbstständiger, visionärer, kooperativer Redakteure mit dem Ziel eines innovativen, wagemutigen, besseren Fernsehens. Ein Fernsehen, von dem es in Baden-Baden trotz Ausreißer nach unten einiges zu sehen gibt.