Als Freevee Anfang Mai bei den New Yorker NewFronts die Bühne des Lincoln Centers übernahm, wo sonst die New Yorker Philharmoniker spielen, bekamen Werbekunden und Mediaplaner gleich mehrere Überraschungen serviert. Ex-"Daily Show"-Moderator Trevor Noah etwa liefert der AVoD-Plattform aus dem Hause Amazon 2024 ein US-Remake der britischen Panel-Comedy "Mock the Week" – allerdings nur als Produzent, nicht vor der Kamera. Von größerer Tragweite ist die Ankündigung, dass mehr als hundert Serien, die ursprünglich für Amazons SVoD-Plattform Prime Video produziert wurden, demnächst kostenlos auf Freevee zu sehen sind. Darunter finden sich zurückliegende Staffeln von "Reacher", "The Wheel of Time", "Modern Love", "A League of Their Own", "Goliath", "Upload", "Mozart in the Jungle" oder "Homecoming".

Der Schritt zeigt, dass Amazon es mit der engeren Verzahnung seiner beiden Streaming-Dienste ernst meint. Folgerichtig wird der "Freevee Originals"-Channel innerhalb von Freevee in "Amazon Originals" umbenannt. Was Netflix innerhalb seiner bestehenden Plattform versucht, nämlich Werbung als zusätzliches Erlösmodell neben Abo-Gebühren zu etablieren, geht Amazon mit zwei eigenständigen Angeboten an, die freilich beide von den hauseigenen Amazon Studios mit Programm versorgt werden. Und was Paramount gern zur Promotion neuer Staffeln von CBS- oder Paramount+-Serien macht, nämlich deren alte Staffeln rund um die Uhr auf Pluto TV laufen zu lassen, zieht Amazon nun in weitaus größerem Maßstab auf.

Der strategische Befreiungsschlag bescherte Amazon Studios endlich mal wieder positive Schlagzeilen, von denen es zuletzt nicht so viele gab. Dass im Zuge des Stellenabbaus beim E-Commerce-Riesen auch rund hundert von 7.000 Jobs innerhalb der Film- und TV-Sparte wegfallen, war nicht einmal die größte Hiobsbotschaft. Im April machten interne Zahlen die Runde, nach denen der "Lord of the Rings"-Ableger "The Rings of Power" bei weitem nicht so performt hat, wie man sich das von der teuersten Serie aller Zeiten versprochen hätte. Die erste Staffel, deren Produktion über 460 Millionen Dollar – oder knapp 60 Millionen pro Episode – verschlungen hat, brachte es demnach nur auf eine Completion Rate von 37 Prozent im US-Markt bzw. 45 Prozent beim internationalen Publikum. Das heißt: Knapp zwei Drittel bzw. über die Hälfte der Zuschauer brachen vorzeitig ab. Zum Vergleich: Während 87 Prozent der anfänglichen Zuschauer "Squid Game" bis zum Staffelfinale die Treue hielten, setzte Netflix "1899" mit 32 Prozent oder "Resident Evil" mit 45 Prozent Completion Rate ab.

Jennifer Salke © NBC Die Frau mit dem Füllhorn: Amazon-Studios-Chefin Jennifer Salke setzt auf die Ringe der Macht
"Dieses Verlangen, die Serie als Misserfolg darzustellen, spiegelt nicht die Gespräche wider, die ich intern führe", versuchte sich Amazon-Studios-Chefin Jennifer Salke im "Hollywood Reporter" zu verteidigen. Die zweite Staffel werde mehr dramatische Wendungen als die erste enthalten, was eine riesige Chance für die Serie bedeute. Die Dreharbeiten in Großbritannien dauern noch bis Ende Mai und werden wegen des US-Autorenstreiks ohne die Showrunner J.D. Payne und Patrick McKay zu Ende geführt. Obwohl die Produktion von Serien und Filmen für den Konzern nur ein vergleichsweise kleines Nebengeschäft ist, um das Kundenbindungsprogramm Amazon Prime attraktiver zu machen, muss Salke damit rechnen, dass inzwischen genauer auf ihre Zahlen geschaut wird. Da fällt es dann unangenehm auf, dass der Ende April angelaufene Spionagethriller "Citadel" infolge kreativer Differenzen, Showrunner-Wechsel und Nachdrehs an die 300 Millionen statt der eigentlich budgetierten 160 Millionen Dollar gekostet haben soll. Oder dass millionenschwere Exklusivverträge mit Kreativen wie Phoebe Waller-Bridge oder Lena Waithe über Jahre kein einziges greifbares Projekt hervorgebracht haben.

Die US-Branchenpresse berichtet immer wieder von Grabenkämpfen zwischen Salke und ihrem Vorgesetzten Mike Hopkins, dem Senior Vice President für Prime Video und Amazon Studios, der dem Vernehmen nach mehr Sparsamkeit bevorzugen würde – um das Geld stattdessen in Sportrechte zu stecken. Seit Herbst 2022 hält Prime Video als erster Streamer überhaupt exklusive Übertragungsrechte der NFL für "Thursday Night Football". Kostenpunkt: eine Milliarde Dollar pro Saison; der Vertrag läuft elf Jahre. In den drei Stunden des Eröffnungsspiels im September verzeichnete Prime US laut Amazon-Sportchef Jay Marine die "höchste Zahl an Neuanmeldungen in der Geschichte von Amazon". Das macht Lust auf mehr: Amazon-CEO Andy Jassy höchstpersönlich kündigte an, in weitere Sportrechte investieren zu wollen. In Hollywood fürchten manche nun, dass das vergleichsweise volatile Fiction-Geschäft mittelfristig dahinter zurückstehen müsse.

Momentan ist es ausgerechnet das Segment Kinofilm, mit dem die gestandene Fernsehfrau und langjährige NBC-Managerin Salke ungeahnte Triumphe einfährt, nachdem sie gegen den anfänglichen Willen Hopkins' in Personalunion auch die Leitung des für 8,5 Milliarden Dollar aufgekauften Filmstudios MGM übernommen hat. Mit einem globalen Box-Office von 100 Millionen Dollar am Startwochenende Anfang März gelang "Creed III" von und mit Michael B. Jordan das erfolgreichste Kinodebüt eines Sportlerfilms überhaupt. Mittlerweile steht das weltweite Einspielergebnis bei 275 Millionen Dollar – deutlich mehr, als die ersten zwei Teile des "Rocky"-Spin-offs schafften, in die Sylvester Stallone noch persönlich involviert war. Und: der meistgesehene MGM-Streifen außerhalb der James-Bond-Reihe seit etlichen Jahren.

In diesem Aufwind startete Amazon Studios Anfang April Ben Afflecks "Air", die faszinierende Geschichte, wie Nike 1984 den jungen Michael Jordan als Testimonial gewann. Ursprünglich nicht für einen größeren Kino-Release vorgesehen, änderte Amazon die Strategie, um neben reichlich Kritikerlob bislang 80 Millionen Dollar an den Kinokassen einzuspielen. Die plötzliche Liebe des Streamers zur großen Leinwand hat handfeste wirtschaftliche Gründe: Wer zwei- bis dreistellige Millionenbeträge für einen einzigen Film ausgibt, ohne die Zuschauerzahlen von Marktführer Netflix auf der Plattform zu haben, muss früher oder später nach zusätzlicher Reichweite suchen. Die teils millionenschweren Kino-Kampagnen wiederum steigern die Bekanntheit des Titels in der Regel so stark, dass er davon auch noch zwei Monate später bei der Streaming-Premiere profitiert. Dazu passt Salkes Bekenntnis, auf Sicht rund eine Milliarde Dollar pro Jahr in Filme mit umfassender Kinoauswertung zu investieren. Solange die Konzernoberen aus Seattle sie lassen.

US-Studios im Umbruch – bisher erschienen