So viel steht fest: Über zu wenig Beachtung darf sich "All or Nothing", die vierteilige Prime-Video-Doku rund um den sportlichen Misserfolg der deutschen Fußballnationalmannschaft in Katar, nicht beklagen. Seit Wochenbeginn war die seit Freitag verfügbare Doku Thema und nicht selten haben sich Menschen darüber empört, dass sie überhaupt erschienen ist. Lothar Matthäus etwa bemängelte neben dem Veröffentlichungszeitpunkt auch das Projekt an sich: Dem "Münchner Merkur" sagte der Ex-Fußballer und heutige RTL/Sky-Experte: "Dass man sich während der WM von einem Kamerateam begleiten lässt, ist grundsätzlich schon nicht ideal." Eine zumindest streitbare Äußerung, auch vor dem Hintergrund, dass Fernsehsender eigentlich seit Jahren schon auf tiefere Einblicke drängen.

Für "All Or Nothing" hat sich die deutsche Fußballnationalmannschaft vor der Winter-WM 2022 in Katar und beim Großturnier begleiten lassen. Entstanden sind am Ende (nur) vier Folgen, die es allerdings in sich haben. Weil das (sportliche) Ergebnis, nämlich das miserable Ausscheiden des Teams nach der Vorrunde, bekannt ist, soll auch kein Geheimnis um die Qualität von "All or Nothing" entstehen. UFA Documentary liefert somit eine der besseren Fußball-Dokumenationen dieses Landes, vielleicht sogar die beste, die bisher rund um deutsche Teams entstanden ist. Das liegt in erster Linie daran, dass es sich hierbei um kein PR-Produkt handelt, sondern dem Format stattdessen in der Tat eine journalistische Arbeit zugrunde liegt. Was selbstverständlich erscheint, ist es in Zeiten von knappen Budgets von Fernsehsendern nicht mehr. In der UFA-Produktion wird offengelegt, wie die Defensiven Niklas Süle und Joshua Kimmich aneinander gerieten, sie zeigt aber auch den Austausch zwischen Kimmich und Trainer Flick in Fragen rund um taktische Details auf dem Platz.

Entstanden ist eine Dokumentation, die keinen Hehl daraus macht, eine der größeren Pleiten des DFB abzubilden, wie schon der kurze Vorspann zeigt, in dem "All or" schnell verschwindet und vom Titel noch "Nothing" übrigbleibt. Ein Sinnbild für die Tonalität der vier Folgen, in der die Euphorie mehr und mehr schwindet und sich Gewitterwolken über der Mannschaft mehren. Auch deshalb dürfte es aktuell Stimmen geben, die sagen, so dicht dran sollten TV-Dokus nicht an Mannschaften sein. Aus der Liga und auch sonst sind es Spieler, Trainer und Funktionäre noch gewohnt, weitgehend abgeschottet zu sein. Hier mal ein Interview während der Trainingswoche, da mal ein PR-Auftritt und nach dem Spiel die übliche Medienrunde. Zugang zu Kabinen, Teambesprechungen oder gar die Auswechselbank gibt es nicht. Die Sender wollen das längst ändern, Sky-Sportvorstand Charly Classen etwa sagte kürzlich, er könne sich auch Kameras im Mannschaftsbus vorstellen.

Mit "All or Nothing" lässt die im Imagetief befindliche Nationalmannschaft endlich das zu, was etwa in der Formel 1 seit dem Einstieg von Liberty Media Alltag ist: Tiefe Einblicke, auch wenn sie dieser Tage weh tun und vielleicht sogar stören. Die Formel 1 hat sich geöffnet für öffentlichen Boxenfunk, für die Produktion von "Drive to Survive" (Netflix) und erzählt somit spannende Insights. Der Fußball kann, vielleicht muss er sogar viel lernen, um junge Zielgruppen nachhaltig zu binden. Es sind manchmal kleine Dinge, die Nähe erzeugen. Etwa das Team um Kimmich beim Kreuzwort-Rätseln zu sehen. Heißt der bekannte Sänger Rod oder Rob Stewart?! Oder der Frage nachzugehen, ob Kimmich ohne Bart wirklich wie ein Nacktmull aussieht. Den Taktik-Fanatiker dürfte all das eher peripher interessieren, wer aber Fan eines Teams oder eines Spielers ist, kommt auf seine Kosten. Und erlebt das Mannschaftsgefüge so nah, wie es sonst im Fußball-Business nicht möglich gemacht wird.

Von Wahrheit und Schmerz

Vielleicht ist die Doku gerade auch deshalb so gut geworden, weil sie letztlich gar nicht anders kann als kritisch zu sein. "Es ist die Geschichte einer Tragödie" raunt die Stimme von Bela Rethy recht zu Beginn der ersten Folge. Rethy, der in seinem Berufsleben etliche Spiele des DFB-Teams für das ZDF kommentierte, ist eine goldrichtige Wahl als Erzähler. Seine Stimme, sie ist vertraut wie eh und je. Er begleitet die Zuschauerinnen und Zuschauer durch die Wochen vor der WM, wo mit einer Niederlage gegen Ungarn schon Unheil drohte, bis hin zur Abreise nach Katar. "Wahrheit und Schmerz – daraus werden gute Geschichten gemacht", bestätigt auch UFA-Produzent Marc Lepetit gegenüber DWDL. Natürlich sei es gut, genau das zu erleben, sagt er. "Und es ist dramaturgisch spannender, durch eine holprige Vorrunde zu laufen, in der justiert, diskutiert und 'gelebt' werden muss – in der nichts sicher ist und jeder Spieler versucht zu berechnen, wie man spielen müsste, um weiterzukommen. Emotionale Reden, die ein Team bewegen."

Reibungslos ist während des Drehs offenbar nicht alles verlaufen. Im Sommer gab es Meldungen über Spieler, die sich doch reichlich Zeit ließen, um zum vereinbarten Interview zu kommen und dann war da auch noch die Aufregung darüber, dass der DFB den Wunsch äußerte, eine Szene nicht zu zeigen. "Gegenvorschläge" seien entgegen genommen worden. Da schwingt sie also doch mit, die Diskussion, ob es in eine solche Dokumentation hinein gehört, hautnah zu zeigen, wie das Trainerteam über einzelne Spieler spricht. Für die "Wenn schon, denn schon"-Fraktion ist der Fall dabei klar, doch zumeist ist gegenseitiges Aufeinanderzugehen die beste Lösung. So beschreibt es übrigens auch Marc Lepetit: "Uns ging es auch bei dieser Doku immer und zuallererst um Authentizität und auch um Respekt den handelnden Personen gegenüber. Wir produzieren immer wieder Dokumentationen, die Menschen, ihre oftmals sehr persönlichen Wege und Entwicklungen in besonderen Umfeldern zeigen." Dann ermögliche man es den gezeigten Menschen, darauf zu reagieren. "Es liegt dann ausschließlich an unseren Kreativen und in unserem Ermessen, die Gedanken abzugleichen und zu entscheiden, ob ein Feedback in die Geschichte einfließt, weil es ihr dient. Oder nicht", sagt Lepetit.

Marc Lepetit © UFA GmbH Marc Lepetit
Trotz so mancher kolportierter Schwierigkeit: Die Zusammenarbeit mit dem Team sei im Verlauf der kurzen WM nicht problematischer geworden, erinnert sich Lepetit. "Alle wussten ja, dass es uns gibt, und unsere Crews waren wie ein Teil des Teams hinter der Mannschaft. Man sieht ja auch immer wieder deutlich, wie nah wir an dem Team dran waren. Martin Christ als leitender Kameramann hat sich diese 'Unsichtbarkeit' erarbeitet. Auch gerade an den kritischen Tagen rund um das Japan Spiel. Da kommt es auf das Fingerspitzengefühl unseres Teams an, immer wieder den richtigen Augenblick und den Raum mit den Spielern zu finden." So seien, wie Lepetit es nennt, Interviews jenseits der "Norm" entstanden. Der Zugang, er habe vielleicht auch deshalb funktioniert, weil das Team mit Hannes Heidenreich und der Stereo Films den Produzenten der Bayern-Doku engagiert hatten und DOP Martin Christ die Mannschaft ohnehin schon seit Jahren begleitet. Das habe, sagt Lepetit, viel Skepsis abgebaut.

Schön zu sehen ist in "All or Nothing" aber auch, wie das in Deutschland vorherrschende Thema rund um die WM, die Fußballspieler durchaus bewegt hat. Zur Erinnerung: Die deutschen Fans waren einer WM im Wüstenstaat abgeneigt, die Quoten waren vergleichsweise niedrig und dass der damals noch fitte Manuel Neuer keine Kapitänsbinde mit Regenbogen-Symbol tragen durfte, haben hierzulande nur wenige verstanden. Die Rede war in Folge von einem Zoff zwischen DFB und FIFA, die Nationalelf hielt sich vor ihrem ersten Spiel auf dem Platz den Mund zu. "All or Nothing" macht nachträglich nochmals deutlich, wie sehr die Debatte um die Binde und somit auch die Zensur der FIFA letztlich Einfluss genommen hat auf die Stimmung im Quartier. Man hoffe eigentlich, dass das Sportliche im Vordergrund steht, sagt Oliver Bierhoff im Rahmen eines Interviews für "All or Nothing" – das war im November 2022 beim DFB-Team nun nicht der Fall. "Lass uns auf den Fußball konzentrieren, auf das, was wir in der Hand haben", sagte Bundestrainer Flick vor dem ersten Spiel.

"Vor Ort hat man hat gespürt, dass die Grundstimmung und Wahrnehmung in Deutschland und damit auch die Stimmung der Fans die Mannschaft nicht kalt gelassen haben. Wir reden von hochmotivierten Spielern und einem Team, das sich als Ziel gesetzt hat, eine tolle Weltmeisterschaft zu spielen, einen Titel zu holen. Und, das haben sie, bis auf Momente im Spiel gegen Japan, auch aufblitzen lassen", sagt Lepetit gegenüber DWDL.de und ergänzt: "Im Schneideraum haben Regisseur Christian Twente und Creative Producer Matthias Bittner, sowie die Editoren aus dem umfangreichen Material die visuellen und klaren Momente gesucht, die diese Geschichte der One-Love-Binde erzählen und für die Zuschauer:innen wirken lassen. Und ich finde, das ist ihnen eindrucksvoll gelungen."

Eindrucksvoll sind nun aber auch die neuerlichen Abwehrmechanismen ein Dreivierteljahr nach dem verkorksten Turnier. Wie sich der Fußball doch wieder einzuigeln versucht. "Dass durch Formate wie 'All or Nothing' oder auch 'Drive to survive' diese Figuren in den Fokus von Geschichten rücken und außerordentlich erfolgreich sein können, macht Lust auf mehr und man kann nur hoffen, dass es mehr solch kompetenter Medienpartner wie Prime Video und offener Protagonisten wie den DFB gibt, die in diesen Bereich auch weiter investieren und uns die Chance geben diese Geschichte genauso zu erzählen." Ob der deutsche Fußball wirklich schon so weit ist, wird sich zeigen. "All or Nothing" gibt sicher einen Anstoß, in welche Richtung auch immer.

"All or Nothing: Die Nationalmannschaft in Katar", verfügbar auf Prime Video.