Eigentlich hatten Greg Peters und Ted Sarandos bei der Vorstellung der jüngsten Quartalszahlen hauptsächlich frohe Botschaften zu verkünden: 9,3 Millionen zusätzliche Abonnenten, 15 Prozent Umsatzplus, 77 Prozent Gewinnzuwachs. Und doch schickten die beiden Co-CEOs ihre Aktie im Anschluss auf leichte Talfahrt. Schuld daran waren zwei Ankündigungen, die den Finanzmärkten weniger gut schmeckten: Netflix erwartet im zweiten Quartal ein abgebremstes Wachstum und wird ab Anfang 2025 keine Abonnentenzahlen mehr veröffentlichen.

Peters' Erklärung kam einigermaßen verklausuliert daher: "Die simple historische Rechnung, der wir alle bisher gefolgt sind – Anzahl der Mitglieder mal monatlicher Preis –, ist immer weniger aussagekräftig für den Zustand unseres Geschäfts." Das Statement lässt sich in verschiedene Richtungen interpretieren, was etliche Analysten auch prompt taten. Netflix hat die "Streaming Wars" bereits gewonnen, geht eine Erklärung, und hat es daher schlicht nicht mehr nötig, jedes Quartal mit Abo-Zuwächsen zu protzen. Was ebenso zutrifft, ist der Wettbewerbsvorteil, dass Netflix bei traditionellen Kennzahlen wie Umsatz und Nettoergebnis auf absehbare Zeit weit vor allen Rivalen liegen wird, also dorthin den hellsten PR-Schweinwerfer richten möchte.

Doch auch die weniger strahlenden Erklärungen sind nicht von der Hand zu weisen: Mit so vielen unterschiedlichen Abo-Modellen – teils mit, teils ohne Werbung – und je nach Region gestaffelten Preisstrukturen sind längst nicht mehr alle Abonnenten gleich, jedenfalls nicht in ihrer finanziellen Werthaltigkeit. Und vermutlich wissen Peters und Sarandos sehr genau, wie stark die seit einem Jahr praktizierte Bekämpfung von Account-Sharing momentan noch zu Abo-Wachstum führt und wann ein Auströpfeln dieses Effekts zu erwarten ist.

Ted Sarandos, Greg Peters © Netflix Neue Kennzahlen: Ted Sarandos und Greg Peters (v.l.) stellen die Berichterstattung von Netflix um
Im Guten wie im Schlechten hat der weltweite Streaming-Marktführer schließlich stets die Richtung für die ganze Branche vorgegeben. Sein Erfolg ließ die anderen Studios erst schwindelerregend hohe Schulden aufnehmen, um den fantastischen Abo-Zahlen nachzueifern. Als Netflix dann im vorletzten Jahr zwischenzeitlich abstürzte, stürzten alle anderen noch tiefer, weil auf Pump finanzierter Content-Shoppingrausch in Zeiten von Inflation und steigenden Zinsen an den Börsen nicht mehr goutiert wurde. Plötzlich waren möglichst hohe Abo-Zahlen – oftmals aufgehübscht durch saisonale Sonderangebote – nicht mehr viel wert. Netflix schüttelte sich, stand als erster wieder auf und braucht sich heute mit rund 270 Millionen zahlenden Abonnenten und 250 Milliarden Dollar Marktkapitalisierung manche Sorge der Mitbewerber nicht mehr zu machen.

Peters informierte die Anleger über die sechs Kennzahlen, die Netflix künftig veröffentlichen und prognostizieren will: Umsatz, operatives Betriebsergebnis, operative Gewinnmarge, Nettoergebnis, Ergebnis je Aktie und freier Cash-Flow. So weit, so solide. Im jüngsten Geschäftsbericht tauchen freilich ein paar Metriken auf, die anstelle schierer Abo-Zahlen die hohe Zuschauerbindung unterstreichen sollen und zumindest fragwürdig erscheinen. Zwischen April 2023 und März 2024 habe Netflix jeweils "den Nummer-eins-Streaming-Film (z.B. 'The Mother', 'The Killer', 'Heart of Stone') für acht der ersten elf Wochen und die Nummer-eins-Originalserie (z.B. 'The Lincoln Lawyer' und 'Black Mirror') für neun der ersten elf Wochen" auf der Plattform gehabt. Den Erfolg im Kultivieren von Fangemeinden will man gar damit belegen, dass die Trailer für Netflix-Programme "über sechs Milliarden Impressions pro Monat" auf der eigenen Plattform generieren – "mehr als das 40-fache dessen, was sie auf YouTube erreichen".

 

Seht her, lautet die Botschaft an Werbekunden, wie wirksam sich Menschen auf Netflix aktivieren lassen. Die Reichweite, sprich: die Zahl der Abos mit Werbung, zieht Netflix nicht als Argument heran, weil sie mutmaßlich noch eher gering ausfällt.

 

Die Botschaft ist klar an Werbekunden und Media-Agenturen gerichtet: Seht her, lautet sie, wie wirksam sich Menschen auf Netflix aktivieren lassen. Die Reichweite, sprich: die Zahl der Abos mit Werbung, zieht Netflix nicht als Argument heran, weil sie mutmaßlich noch eher gering ausfällt – nach jüngsten Studien etwa 20 Millionen im US-Markt. Vom Finanz- wie vom Werbemarkt, so scheint es, würde Netflix jetzt gern in derselben Kategorie wie Apple oder Amazon wahrgenommen werden, die ihre Zahlen auch nicht bis aufs Content-Angebot herunterbrechen und dennoch reichlich bedacht werden. Definitiv will man sich nicht mehr in derselben Box wie Disney+, Max oder Peacock und deren Eigner bewerten lassen, die bis auf weiteres weder mit annähernd hohen Gewinnen noch annähernd hoher Nutzerbindung argumentieren können, sondern erst noch eine Weile weiteres Wachstum unter Beweis stellen müssen.

Unterdessen ist Netflix dabei, noch tiefer in weitere Programmgenres, vor allem in Live-Events und damit die letzte verbliebene Bastion des linearen Fernsehens, vorzustoßen. Der Anfang des Jahres geschlossene Deal mit der Wrestling-Liga WWE, der den Streamer für fünf Milliarden Dollar zu deren neuer Heimat über die nächsten zehn Jahre macht, ist der bislang größte und entschlossenste Schritt in diese Richtung. Branchenkenner rechneten rasch aus, dass die Plattform von WWE jährlich 52 Wochen Live-Content und 150 Programmstunden bekommt – für 500 Millionen Dollar oder den Preis von zwei Zack-Snyder-Filmen. Alles, was man sich von einer "umfassenden Lizenzpartnerschaft" wünsche, weise der WWE-Deal auf, schwärmte Netflix-CFO Spencer Neumann im März auf der Investorenkonferenz von Morgan Stanley und nannte insbesondere "globale Anziehungskraft", "langfristige Sicherheit" sowie ein "attraktives Preis-Leistungs-Verhältnis" im Hinblick auf Abo-Abschlüsse.

Obwohl Peters und Sarandos – Produktmanager der eine, Programmmensch der andere – nach knapp anderthalb gemeinsamen Jahren an der Spitze gelegentlich noch immer Projekte des jeweils anderen hinterfragen, laut einem Bericht des "Wall Street Journal" von Ende März etwa auch den WWE-Deal, kommt das Wirtschaftsblatt nach etlichen Gesprächen zu dem Ergebnis, dass die beiden "gegensätzlichen Pole – von sehr verschiedenen, aber gleich mächtigen Flügeln des Unternehmens" sich doch als Vorteil erwiesen hätten. Ihre jeweiligen Verantwortungsbereiche seien mittlerweile harmonisch aufgeteilt. Dafür sei es nicht nur nötig gewesen, dass "Greg und Ted Experten auf ihrem eigenen Feld" seien, zitiert das "WSJ" den früheren Business-Development-Chef Bill Holmes, sondern dass beide "eine starke Beziehung zueinander" aufgebaut hätten. "Das war neu für Netflix", so Holmes.