Was haben die meistgestreamte internationale Serie von Prime Video (also "Maxton Hall") und die weltweit zweitmeistgesehene Netflix-Serie im zweiten Halbjahr 2023 überhaupt (also "Liebes Kind") gemeinsam? Sie wurden beide im vergangenen Jahr bei der Seriencamp Conference im Rahmen von "Work in Progress" vorgestellt. Im Rahmen dieser Veranstaltungreihe geben Macherinnen und Macher alljährlich einen Einblick in ihre gerade noch in Produktion befindlichen Projekte. Man darf also angesichts der Vorgeschichte gespannt sein, wie sich die sieben neuen Serien aus Deutschland oder mit deutscher Beteiligung, die sich diesmal präsentierten, schlagen werden.

Auch wenn das letzte Jahr kein einfaches für die Produktionslandschaft war, sich einige Auftraggeber gänzlich aus der Serienproduktion zurückgezogen haben, andere die Budgets kürzten und die Streamer aktuell mehr in Richtung Mainstream schwenken, zeigte sich auch dieses Jahr wieder, welch hohe Bandbreite an deutschen Serienproduktionen noch immer auf den Markt kommt. Rainer Matsutani, Showrunner, Regisseur und Headautor von "Hameln", konnte sein Glück kaum fassen, dass sich das ZDF an eine Horrorserie wagt - schließlich habe er als bekennender Horror-Fan schon viele Jahre vergeblich versucht, Auftraggeber von Horror-Produktionen zu überzeugen. Doch nun also Horror in Serie im ZDF: "Träume ich? Weckt mich auf!"

Work in Progress © DWDL

"Hameln" basiert auf der Sage des "Rattenfängers von Hameln", die ja wiederum auf einem tatsächlichen Ereignis beruht, bei dem 1284 rund 130 Kinder spurlos aus der Stadt verschwanden. "Ich wollte keine historische Serie machen, sondern eine moderne Geschichte erzählen", erklärte Matsutani, also handelt die Serie nun davon, dass der Rattenfänger und die 130 Kinder fast 750 Jahre später zurückkehren. ZDF-Redakteurin Michelle Rohmann war nach eigenen Angaben sofort begeistert vom Stoff. "Es ist nicht nur Horror, es steckt auch Abenteuer und Coming of Age drin." Und dass in der Geschichte das Thema Diversity schon automatisch mit bedacht ist, hat auch geholfen, denn der Sage nach können nur eine Blinde, ein Tauber und ein Gehbehinderter diese unheimliche Armee aufhalten. Während man an der Serie gearbeitet hat, wurde klar, dass man hier nicht mit einem niedrigen Budget arbeiten kann, zumal die Dreharbeiten mit den Kindern am Set aufwendig waren. Also bemühte sich die Produktion zusätzlich um öffentliche Förderung, erläutert Henning Kamm von Real Film Berlin. Heraus kam das bislang teuerste "neoriginal". Aktuell befindet man sich mitten im Schnitt der Folgen, die Ausstrahlung ist voraussichtlich für Anfang 2025 zu erwarten.

Tote gibt's auch beim zweiten vorgestellten Projekt, allerdings in gänzlich anderer Tonalität, nämlich im Rahmen einer schwarzhumorigen Serie: "Achtsam Morden" handelt vom gestressten Hamburger Anwalt Björn Diemel, der zwischen Arbeit und Familie aufgerieben wird, bis er sich an einen "Achtsamkeitscoach" wendet. Das hilft ihm tatsächlich - allerdings in unerwarteter Weise. Als sein krimineller Mandant ihm droht, bringt der ihn nämlich um - aber natürlich nach allen Regeln der Achtsamkeit. Die Serie basiert auf der gleichnamigen Romanreihe von Karsten Dusse, deren Verfimungsrechte man sich sogar noch vor Erscheinen auf Basis eines Tipps von Martina Hill gesichert hatte, wie Jan Ehlert von Constantin Film erzählt. Die Adaption als Serienstoff habe dann letztlich etwas länger gedauert als erwartet, weil die Übersetzung insbesondere im Comedy-Bereich vom Buch zum Film nicht ganz trivial sei, wenn man weiter den richtigen Ton treffen will. Letztlich habe man sich entschieden, so nahe wie möglich am Buch zu bleiben, so Ehlert.

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Spannend ist unterdessen auch die Konstellation, dass Regisseurin und Autorin Martina Plura und die für die Kamera verantwortliche Monika Plura Zwillingsschwestern sind. Martina Plura  "Wir können blind kommunzieren. Wir haben dieselbe Vision, ich kann mich auf die Regie konzentrieren, sie kann sich auf die Visualisierung konzentrieren." Ob "Achtsam Morden" nun ähnlich erfolgreich um die Welt gehen wird wie "Liebes Kind"? Für Jan Bennemann von Netflix scheint die Frage fast zweitrangig: "Unser Job als deutsches Netflix-Team ist es, Serien zu finden, die unserem deutschsprachigen Publikum gefallen." Es gebe immer die Chance, dass sie zum weltweiten Hit werden - gelinge das nicht, sei das aber auch okay. Da man mit der Tonalität nahe an britischer Comedy liege, sehe er da aber durchaus Chancen - auch wenn deutsche Comedy ja sonst nicht unbedingt einen Weltruf besitzt.

Eine weitere Comedy unter ungewöhnlichen Vorzeichen ist "Angemessen Angry". Bei der Serie, die aus dem Storyteller-Wettbewerb von RTL+ hervorging, handelt es sich um eine Superheldinnen-Comedy, die sexuelle Gewalt thematisiert. Konkret geht es um ein Zimmermädchen, das nach einer Vergewaltigung die Superkraft entwickelt, Sexualstraftäter erspüren zu können - und daraufhin selbst zur Richterin über Gut und Böse wird. Das wenige, was man schon sehen konnte, ist so wild wie witzig. Elsa van Damke, Regisseurin und gemeinsam mit Jana Forkel Autorin der Serie, ist selbst Überlebende von sexueller Gewalt, ebenso wie viele ihrer Freundinnen. Die Idee zur Logline der Serie sei dadurch entstanden, dass es angesichts all der Dinge, die Frauen passieren, schon allein eine Superkraft sei, dass sie nicht dauerhaft unheimlich wütend oder gar gewalttätig gegenüber Männern seien. Sie finde es wichtig, das Thema in Serien zu behandeln, habe aber einen humorvollen Weg wählen wollen: "Die Frage ist immer: Wer macht die Witze? In diesem Fall machen wir die Jokes über Situationen, die wir selbst erleben mussten." Jana Forkel fasst es so zusammen: "Es ist eine ganz feine Linie zwischen Lachen und Weinen - und auf der bewegen wir uns."

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Wichtig sei ihnen dabei auch gewesen, zu zeigen, dass es anders als in vielen Filmen und Serien nicht der Psychopath im Wald sei, von dem die sexuelle Gewalt ausgehe. "Es ist der Lehrer, der Busfahrer, der Onkel, der Freund, Ehemann oder Bruder." Die Serie sei dabei insbesondere auch für Überlebende von sexueller Gewalt interessant: "Wir haben viele Eastereggs versteckt, die Frauen verstehen werden, die das erlebt haben. Viele Männer oder nicht Betroffene werden sie nicht verstehen." Auf die Frage, ob sie selbst die Superkraft der Hauptfigur gerne hätten, antworteten die beiden Autorinnen übrigens unisono: "Nein." Einen Starttermin für die Serie bei RTL+ gibt's noch nicht, ob die Serie auch linear ausgestrahlt wird, ist laut Thomas Disch von RTL noch nicht entschieden. "Die Serie ist so jung, radikal und kompromisslos, dass sie offensichtlich fürs Streaming gemacht ist, nicht für die Primetime bei RTL." Aber man habe ja auch viele kleinere Sender, ausgeschlossen ist auch eine lineare Ausstrahlung daher nicht. Und auch eine Fortsetzung über die fünf Folgen der ersten Staffel hinaus scheint denkbar. Auf die Frage, ob sie noch mehr Ideen für weitere Folgen hätten, antwortete Elsa van Damke nur: "Leider."

Die im Vergleich zu den anderen vorgestellten Projekten am konventionellsten wirkende Serie war "A Good Girls Guide to Murder". Fürs ZDF, wo die Produktion ab 30. August zu sehen sein wird, ist sie aber schon allein deshalb etwas besonderes, weil es die erste Young Adult-Serie der Mainzer ist - und damit in die von ZDF-Intendant Norbert Himmler formulierte Strategie passt, ein "ZDF für alle" zu schaffen, das die jüngeren Altersgruppen also nicht außen vorlässt. Ursprünglich wurde die Serie für die BBC entwickelt, das ZDF kam aber bereits früh im Entwicklungsprozess an Bord, in weiten Teilen der Welt ist zudem Netflix der Partner. Im Zentrum der Geschichte steht die 17-Jährige True-Crime-Enthusiastin Pip, die glaubt, dass bei einem fünf Jahre zurückliegenden Mord an einer Schülerin nicht der Richtige beschuldigt wurde. Der damalige Freund des Opfers galt vielen schnell als Schuldiger und beging Selbstmord. Pip beginnt, Nachforschungen anzustellen, um den echten Täter zu finden - denn wenn sie mit ihrer Vermutung richtig liegt, dann läuft der wahre Mörder in dem kleinen Ort noch immer frei herum.

Beim Anblick der ersten Bilder fällt die Herkunft der Serie dabei durchaus auf, der Look ist direkt als britisch identifizierbar. Nick Percy von BBC Studios betonte aber, dass man ohnehin bei seinen Produktionen nie auf einen "internationalen Look" geachtet habe - und dass die Vergangenheit ja auch bewiesen habe, dass lokal verankerte Serien trotzdem das Zeug dazu haben, weltweit zu überzeugen. Helfen dabei dürfte auch die Wahl der Protagonistin: Emma Myers, die bei der anvisierten Zielgruppe durch den Netflix-Megaerfolg "Wednesday" bestens bekannt ist - und die viele Fans des Buchs als Wunschbesetzung ansehen würden, so ZDF-Redakteurin Laura Mae Harding. Die von ihr dargestellte Protagonistin Pip mache die Serie so einzigartig: Sie sei gleichzeitig jung, in ihrem Denken aber erwachsen, und müsse trotzdem noch sehr viel vom Leben lernen, umschrieb es Matthew Read von der Produktionsfirma Moonage Pictures. Um die Buchvorlage als Serie umzusetzen, habe man sehr eng mit der Roman-Autorin Holly Jackson zusammengearbeitet und auch versucht, sich möglichst nah an der Vorlage zu orientieren. "Einige Änderungen waren trotzdem notwendig, aber wir hoffen, dass die Fans diese akzeptieren", so Read.

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Durch das Involvieren von Holly Jackson ist diesmal immerhin nicht zu befürchten, dass die Autorin der Buchvorlage nicht zufrieden ist - da hat Frank Doelger beim "Schwarm" zuletzt ja schon andere Erfahrungen gemacht. Die drohen bei seinem neuen Projekt "Concordia" nun definitiv nicht, denn diesmal gibt es keine Buch-Vorlage, stattdessen ist das Projekt auf Basis der Ideen von Mike Walden und Frank Doelger entstanden. Das titelgebende "Concordia" ist eine Stadt in Schweden, deren Bewohnerinnen und Bewohner sich freiwillig durch ein umfassendes Sicherheitssystem überwachen und jeden Moment des alltäglichen Lebens aufzeichnen lassen. Das Versprechen ist, dass die Aufnahmen komplett unter Verschluss bleiben - nur wenn es darum geht, Menschenleben zu retten, wird ein Alarm ausgegeben. Der Deal ist also, dass man sich zwar der totalen Überwachung unterwirft, aber mit dem Versprechen, dass die Privatsphäre trotzdem gewahrt bleibt und gleichzeitig die Sicherheit garantiert wird.

Die Frage, ob das nun eine Utopie oder eine Dystopie ist, überlasse man dabei ganz bewusst dem Publikum, erläuterte Produzent Tobias Gerginov von Intaglio Films - und auch im Team, das die Serie produziert hat, habe es dazu unterschiedliche Ansichten gegeben. Trotzdem sei von vornherein der Ansatz gewesen, keine düstere Zukunft zu zeigen, sondern erstmal eine Erfolgsgeschichte zu erzählen - denn in der fiktiven Stadt Concordia funktioniert all das seit 20 Jahren wi´underbar. Weil die Erzählung einer reinen Utopie aber nicht besonders spannend ist, kommt es kurz vor dem geplanten Export in eine weitere Stadt in Deutschland dann allerdings zu einem Vorfall, der die Frage aufwirft, ob das alles überhaupt funktioniert. Kurioses Detail am Rande: Die größte Herausforderung für Production Designer Gaspare de Pascali war, das die Szenen in der winterlichen schwedische Stadt in Italien gedreht wurden - die wundersame Welt der Steuer-Anreizmodelle in der Filmproduktion lässt grüßen. ZDF-Redakteurin Solveig Cornelisen verriet auf der Bühne, dass die Serie ab dem 14. September in der ZDF-Mediathek zu sehen sein wird, die Ausstrahlung im ZDF-Hauptprogramm folge dann als Primetime-Event am 20. und 21. Oktober.

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Während "Concordia" das Publikum nicht zuletzt zum Nachdenken bringen will, zielt die neue Joyn-Serie "Der Upir" ganz klar darauf, Lacher abzustauben - und gemessen an den Reaktionen beim Publikum von "Work in Progress" nach dem Screening einiger Minuten der Serie klappt das ganz hervorragend. Auch "Der Upir" basiert nicht auf einer Vorlage, sondern entstammt der Idee von Autor und Regisseur Peter Meister, der mit seinem Bruder zusammen an den Büchern arbeitete. Es ist gewissermaßen der Beitrag von Joyn zum deutschen Vampir-Jahr - denn 2024 kamen und kommen überraschend gleich mehrere einheimische Vampir-Serien auf den Bildschirm, von denen man beim Start des Projekts aber noch nichts gewusst habe, betont Produzentin Kathi Possert von UFA Fiction. Fahri Yardim spielt in der Serie einen Vampir-Anwärter, der nach einem Biss durch einen Vampir die Verwandlung vom Mensch zum Blutsauger in 30 Tagen erlebt. Erst nach dieser "Probezeit" fällt die Entscheidung, ob er endgültig zum Vampir wird. Und natürlich geht beispielsweise schon bei der Aufgabe des Beseitigens einer Leiche so viel schief, dass sich die Folgen daraus über mehrere Episoden hinziehen.

"Der Upir" lebt dabei vor allem vom Witz, der sich in den Dialogen entspinnt - und bei denen man auch auf das Improvisationstalent von Fahri Yardim und seinem Gegenpart Rocko Schamoni setzte. Laut Peter Meister werden letztlich vielleicht 10 bis 20 Prozent der Serie Improvisations-Anteile sein - wobei er den beiden viel mehr Freiheit am Set gegönnt habe. Häufig habe er schon beim Filmen gewusst, dass er diese oder jene Szene keinesfalls verwenden können - aber es sei nötig, dass die Schauspieler ihren Spaß beim Dreh hätten. Für Joyn machte die Serie natürlich schon allein aufgrund der Besetzung Sinn: "Jerks" war einer der größten Erfolge für den Streamer - und die Fans von Fahri Yardim wolle man nun natürlich auch mit der neuen Produktion wieder bedienen. Wann man all das zu sehen bekommt, steht noch nicht genau fest, die Veröffentlichung ist aber noch für diesen Herbst geplant - womit man bemerkenswert schnell unterwegs ist: Vom Auftrag bis zur Veröffentlichung wird dann nicht mal ein Jahr vergangen sein, so Kathi Possert.

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Kaum weniger skurril wie "Der Upir" mutet die Serie "Generation Z" an, die von The Forge ursprünglich für den britischen Channel 4 entwickelt hat, bei der aber zu einem frühen Stadium auch ZDFneo mit an Bord kam. Alex Kazamia von The Forge erfand für die Serie die neue Genre-Bezeichnung der "ZomCom", also der Zombie-Comedy.  Die Serie spielt in der fiktiven Stadt Dambury, wo ein Chemieunfall vor einem Pflegeheim eine Apokalypse auslöst - und die Rentner allesamt in Zombies verwandelt. Die Gruppe der Zombie-Senioren trifft auf der Suche nach Menschenfleisch auf eine Gruppe an Teenagern, die nach der Zombie-Attacke ebenso vom dem Virus infiziert werden.

Das sieht auf den ersten Bildern so skurril aus, wie es klingt, hat aber auch eine zweite Ebene, weil es auch um die Gerechtigkeit zwischen den Generationen geht und die auch durch den Brexit befeuerte Frage geht, ob die ältere Generation den Wohlstand der Jüngeren aufs Spiel setzt. Ganz konkrete Fragen stellten sich aber auch, wenn es um die Altersfreigabe geht - FSK 16 ist es jetzt beim ZDF geworden - wer in der ZDF-Mediathek zuschauen will, muss sich also registrieren und einen Altersnachweis erbringen. Einen genauen Start-Termin für die Serie gibt es noch nicht - klar ist aber, dass man die Serie linear bei ZDFneo und nicht im ZDF-Hauptprogramm sehen wird. Und da sich die Beteiligten eine zweite Staffel vorstellen können, ist zumindest auch klar, dass die Rentner-Zombie-Apokalypse in Staffel 1 offenbar nicht vollends das Ende der Welt darstellt.