Nach dem weltweiten Erfolg von "Die Verräter" sind alle Sender und Streamer auf der Suche nach Formaten mit einem gewissen Strategie-Faktor. Bei Joyn ist vor wenigen Tagen das neue "The Power" gestartet, der Streamer von ProSiebenSat.1 bewirbt das als "Next Level Reality". Da muss man schon fragen: Ist eine solche Produkttäuschung eigentlich strafbar? Wer ein paar Folgen von "The Power" sieht, sieht rein gar nichts, was "Next Level" wäre. Im Gegenteil: Die vermeintliche Stärke der Show wurde so weit in den Hintergrund gerückt, sodass nur eine ziemlich klassische Krawall-Reality übrig geblieben ist.
Bei "The Power" wohnen zwölf Promis zusammen, wobei in jeder Woche einer von ihnen per Zufallsprinzip zum sogenannten "Powerplayer" wird. "Er übernimmt das Kommando und trifft alle Entscheidungen", hatte Joyn im Vorfeld der Sendung angekündigt. Was damit gemeint ist: Er trifft alle Entscheidungen, die Joyn und die Produktionsfirma Redseven Entertainment ihn treffen lassen. In den ersten vier Folgen erschöpft sich das weitestgehend darin, dass einer anderen Person die Koffer weggenommen werden.
Um den Anschein einer Strategieshow zu wahren, sieht man immer wieder, wie die Kandidatinnen und Kandidaten spekulieren wer es sein könnte. Angesichts mangelnder Aktionen ist das aber so gut wie unmöglich - und so stochern alle die ganze Zeit im Dunkeln. Es ist ein Phänomen, das man teilweise auch bei den "Verrätern" beobachten konnte, hier hatte man zuletzt aber versucht gegenzusteuern.
Viel zu viel Sendezeit nehmen klassische Reality-Erzählungen ein: Der hat mit dem Streit, irgendwer ist fremdgegangen, Zickenkrieg auf Instagram, Streit, Gebrüll - puh. "The Power" läuft in den ersten Folgen viel zu sehr nach dem bewährten Schema F ab. Nur: Dazu braucht es kein neues Format, andere Realitys haben diese Vorgehensweise in den zurückliegenden Jahren oft genug durchexerziert.
Reality-Ware von der Stange
"The Power" ist Reality-Ware von der Stange, die viel zu selten ihr Produktversprechen einlöst. Also konkret: Lügen, Intrigen, Taktik. Vielleicht wäre das bei 50 Folgen auch etwas zu viel verlangt, aber dann hätte man entweder eine andere Schlagzahl wählen müssen oder "The Power" als das verkaufen müssen, was es ist: Eine stinknormale Reality. Auch die Cliffhanger der jeweiligen Folgen stinken ziemlich ab im Vergleich zu dem, was andere, auch internationale Formate, mittlerweile bieten.
Zum Problem der Show gehört auch, dass das eigentliche Konzept für die Zuschauerinnen und Zuschauer lange unklar bleibt. So wird nicht klar, was der Powerplayer machen kann. Vielleicht ist das aber auch gewollt, denn wie gesagt: Die ausgewählte Person kann alleine ohnehin nichts entscheiden. Alles sind Vorgaben der Produktion - und die kommen viel zu selten. Und was muss man eigentlich machen, um am Ende als Sieger aus der Show zu gehen? Auch das ist nach einigen Folgen unklar.
"Es könnte jeder sein", bringt es Matthias Mangiapane irgendwann auf den Punkt, als es um den Powerplayer geht - und damit beschreibt er ein Dilemma, das sich über die gesamte Zeit zieht. Selbst als ein Teil der Promis Hinweise auf die Person erhält, sind diese so weit hergeholt, dass sich der Powerplayer später selbst wundert.
Halbherzige Umsetzung
Wirklich spannend wird es erstmals in Folge sechs (!), als der Powerplayer einen der anderen Promis als Zielperson ausgewählt hat. Dieser darf nur in der Show bleiben, wenn er den Powerplayer enttarnt. Dass das angesichts der überschaubaren relevanten Ereignisse unmöglich ist, versteht sich von selbst. In der weiteren Folge könnte es aber spannend werden, wie die anderen Promis mit dem Powerplayer aus Woche eins umgehen - und ob sie ihn dann anders sehen und bewerten. Bis zu diesem Punkt muss man als Zuschauer aber erst einmal viel Reality-Nonsense aushalten.
"The Power" macht es dem Publikum, die auf einen vorwiegenden Strategie- und Taktik-Ansatz gehofft haben, jedenfalls ziemlich schwer. Es wäre wünschenswert gewesen, wenn sich Joyn und Redseven bei der Adaption des Lizenzformats der französischen Produktionsfirma Dreamspark und der M6-Produktionstochter Studio 89 ein Herz genommen hätten und das Format stringent mit einem Fokus auf den Strategie-Ansatz produziert hätten. So ist "The Power" leider nur eine halbherzige Umsetzung eines interessant klingenden Konzepts - und geht im Reality-Einheitsbrei der deutschen Sender und Streamer unter.
"The Power" steht bei Joyn zum Abruf bereit.