Albträume haben im Vergleich zur Realität einen unschätzbaren Vorteil: ihr baldiges Ende. So fiebrig das Erwachen daraus auch sein mag – der Morgen erlöst die Nacht von ihrer Dunkelheit und erleuchtet den neuen Tag. Normalerweise. „Doch stell dir vor, du wachst auf und der Albtraum geht weiter, immer weiter, er hört nicht auf, niemals“, sagt ein Mann in weißblauer Sträflingsuniform mit Blick zur Kamera und fügt tonlos hinzu: „Willkommen in meinem Leben.“

Es ist das Leben des Holocaust-Überlebenden Ernst Michel, Häftlingsnummer 104995 – eine Zahl, so unveränderlich auf seine Haut tätowiert wie die Albträume der Nacht. Nahezu jeder Nacht, seit seiner Leidenszeit in Auschwitz. Am 27. Januar jährt sich dessen Befreiung zum 80. Mal. Für ein Porträt wäre dieses Datum also nicht das schlechteste – gäbe es kein ungleich besseres: den 20. November 1945. Damals begann das Nürnberger Militärtribunal. Der erste Strafprozess, in dem ein ordentliches Gericht Regierende für staatliches Unrecht zur Verantwortung zog. Und mit dabei in Saal 600: Ernst Michel.

Mit gerade mal 22 Jahren war er nicht nur der Jüngste einer Vielzahl internationaler Journalisten, die darüber berichtet haben. Als einziger von ihnen saß der Sohn eines jüdischen Zigarettenherstellers im Vernichtungslager. Fast 700 Tage, die ihm nur wegen seiner schönen Handschrift nicht zum Verhängnis wurden. Als ausgebildeter Kalligraf landete Ernst Michel im Büro von Josef Mengele, wo er die Menschenversuche des berüchtigten Lagerarztes dokumentieren musste.

Es ist ein weiterer Aspekt einer beispiellosen Biografie, die das Erste Sonntag gleich hinterm „Tatort“ in einer leicht verstaubten Versform schildert: als Dokudrama. Gut 20 Jahre, nachdem der ZDF-Zeitgeschichtler Guido Knopp das Genre zum wirkmächtigsten seiner Zeit gemacht hatte, durfte sich der Drehbuchautor Dirk Eisfeld Gutschmidt im Auftrag aller neun ARD-Rundfunkanstalten nochmals daran versuchen. Wie sein dokudramatisch erfahrener Regisseur Carsten Gutschmidt („Wir, Geiseln der SS“) Archivmaterial mit Reenactment mischt, ist allerdings nicht nur zwei Jahrzehnte, sondern drei Entwicklungsschritte weiter als Knopp.

Denn auf Grundlage von Seweryna Szmaglewska Tatsachenroman „Die Unschuldigen in Nürnberg“, rührt der Film keine Liebesgeschichte unter den streng chronologischen Ablauf historischer Ereignisse und verklebt ihn mit O-Tönen Betroffener. „Nürnberg ‘45“ ist eher ein semifiktionales Psychogramm der juristischen Aufarbeitung unbegreiflicher Verbrechen und ihrer Protagonisten. Auf der einen Seite stehen dabei zwei wenig bekannte, höchst imposante Opfer: Ernst Michel selbst, den Jonathan Berlin mit der ganzen Ausdruckskraft seines zeitgenössischen Gesichts beseelt. Und die polnische Auschwitz-Überlebende Szmaglewska (Katharina Stark) – als Zeugin gekommen, als Chronistin gegangen.

Auf der anderen Seite gibt es zwei ihrer Kinder, die als spätgeborene Zeitzeugen durch den Neunzigminüter führen und dabei für Authentizität, Emotionen, Nähe, aber auch Distanz sorgen. Wenn Ernst Michels Tochter Lauren Shachar an Originalschauplätzen die Geschichte ihres Vaters erzählt, wundert man sich ja nicht nur darüber, wie klein der legendäre Saal 600 im Nürnberger Justizgebäude ist. Ihre ebenso nüchterne wie rührende Schilderung des 2016 verstorbenen Kämpfers für Ausgleich und Versöhnung, macht dessen Schicksal beinahe physisch spürbar.

Ein Beispiel später Selbstermächtigung, das Jonathan Berlin ganze fünf Wochen nach seiner Rolle als Neonazi im ARD-Biopic „Die Nichte des Polizisten“, mit angemessener Zurückhaltung verkörpert. „Im Angesicht dessen, was ihm angetan wurde, kann ich lediglich all meine Empathie und Hochachtung aufwenden, um mich seiner Biografie anzunähern“, sagt der 31-Jährige im Interview und offenbart darin eine schier unglaubliche Verbindung zu seiner Filmfigur: Berlin ist in Günzburg aufgewachsen. Jener Stadt also, aus der ein Menschheitsverbrecher stammt, dem seine Filmfigur gewissermaßen das Leben verdankt: Josef Mengele.

In „Nürnberg ‘45“ begegnen sich beide bereits auf der Rampe von Auschwitz, bevor Michel in Mengeles Vorzimmer Totenscheine ausfüllt. Während der barbarische Arzt jedoch nur als Statist auftritt, steht ein anderer Haupttäter an dritter Stelle der Besetzungsliste: Hermann Göring, als „Angeklagter Nr. 1“ die zentrale Figur des zehnmonatigen Prozesses. Und das mit einer bizarren Randkomponente: Der degradierte Reichsmarschall beauftragt seinen Anwalt Otto Stahmer (Wotan Wilke Möhring), ein Treffen mit Ernst Michel zu organisieren, von dem er sämtliche Artikel liest. Ob es dazu kommt, wäre zu viel verraten.

Wie ihn Francis Fulton Smith hier zum zweiten Mal nach „Der gute Göring“ vor neun Jahren spielt, ist allerdings auf mephistophelische Art authentisch – und macht die Secondary Victimization genannte Retraumatisierung, unter der Prozessbeteiligte wie Szmaglewska oder Michel leiden, noch eindrücklicher. Wie Dirk Eisfeld und Carsten Gutschmidt sie abseits aller dokudramatischen Standards nachstellen, macht „Nürnberg ’45“ sehenswerten Werkzeug, den Ursprung des Völkerstrafrechts 80 Jahre später etwas besser zu begreifen. Mehr sei ohnehin nicht möglich, meint Jonathan Berlin über einen Albtraum, der nie enden will, „man kann sich nur annähern“. Vielleicht kann dieser verstörend gute Film ja ein bisschen dabei helfen.

"Nürnberg 45 - Im Angesicht des Bösen" läuft am Sonntag, 9. November um 21:45 Uhr im Ersten und steht dann auch in der ARD-Mediathek zum Streamen bereit.