Immer häufiger hat deshalb der Zuschauer beim Abklappern der Senderliste das Gefühl, ohnehin immer und überall das Gleiche zu sehen. Das Durchzappen bis zum 200. Programmplatz verliert dann erst Recht seinen Sinn. Innovationen? Ja, die wären gut. Aber Innovationen bräuchten vor allem eines: Ein Publikum, das diesen Weg mitgeht. Das sich also Zeit nimmt und ungeteilte Aufmerksamkeit hergibt, um dafür im Gegenzug ein unerhöhtes Seherlebnis zu erhalten. Aber wer fängt an: Der Sender mit dem unerhörten Programm oder der Zuschauer mit der ungeteilten Aufmerksamkeit? Und wie lange würden das beide wohl durchhalten?

Aus meiner langjährigen und intensiven Sichtungsarbeit für den Deutschen Fernsehpreis kann ich als Erfahrungswert eines mit Gewissheit sagen: Je anspruchsvoller das Thema, je intensiver die Inszenierung, je besser also das Programm, desto schlechter lässt sich danach einfach weiterschauen. Filme wie „Auslandseinsatz“ über die deutschen Soldaten in Afghanistan, „Herbstkind“ über postportale Depression oder „Ein Jahr nach morgen“ über Amoktäter verlangen nach dem Abspann eigentlich eine Atempause. Aber auch das Primetime-Programm der ARD ist natürlich auf maximale Verweildauer programmiert.

Eine Serie wie „Lebt wohl, Genossen“ über den Zusammenbruch der Sowjetunion müsste man eigentlich am Stück sehen, um den roten Faden der Argumentation zu begreifen. Bei den Produkten des Alltagsbegleitfernsehen ist es gerade umgekehrt. „Berlin Tag und Nacht“ über mehrere Folgen hinweg am Stück zu sehen (was mir aus beruflichen Gründen nicht erspart ist) lässt sich nur ertragen, wenn man noch etwas Sinnvolles nebenher macht: Abwaschen oder bügeln, den Facebook-Account pflegen oder das DVD-Archiv aufräumen. Dann freilich kann es ganz funny sein. Meiner Meinung nach galt dies übrigens bis zu dem tragischen Unfall von Samuel Koch auch für „Wetten, dass...?“. Man konnte diese Mammutshow sehen, ohne sich konzentrieren zu müssen. Man konnte Gottschalk zuschauen, ohne dass es nach Arbeit aussah, man konnte stundenlang hinsehen, ohne wirklich mitfiebern zu müssen.

Mir behagt deshalb der Begriff „Billigfernsehen“ nicht. Es ist ja nur zum Teil eine Frage des Budgets. Auch manche Millionen schwere Degeto-Produktionen ist unterm Strich eine prächtige Bügelhilfe, die niemandem etwas abfordert. So mancher Dokumentarfilm des „Kleinen Fernsehspiels“, der mit einem Hungerlohn realisiert wurde, fordert dagegen von seinem Publikum maximale emotionale und intellektuelle Konzentration ein. Die ästhetisch und emotional oft über alle Maßen aufgeladenen Debütfilme, die ich in der Jury von „First Steps“ sehe, machen selbst eine professionelle Vielseherin wie mich oft nach nur einem Film für den Tag berufsunfähig. Von Sat.1-Komödien – auch von den wirklich guten – schaffe ich ohne nennenswerte Ermüdungserscheinungen drei am Tag.

Die Abwärtsspirale, die nun alle beklagen, ist also nicht in erster Linie durch die Kürzungen ökonomische Etats entstanden, sondern durch die Reduzierung des Aufmerksamkeitsbudgets. Erst sparten die Zuschauer, dann sparten die Sender. Dann waren alle von einander maßlos enttäuscht. Natürlich ist all das in den Sendern längst bekannt. Ich beobachte verschiedene Strategien, mit der Lage umzugehen: Das ZDF hat einfach einen neuen Sender neben dem alten aufgemacht und verkauft diesen nun als „neo!“ Das ist dreist, aber viel versprechend. Sat.1 versuchte sich unter Joachim Kosack mutig an der Operation am offenen Herzen und transplantierte die neuen Programme einfach mitten ins alte Sendeschema.

RTL, einst mächtiger Magnet für Zuschaueraufmerksamkeit, befindet sich in einer gefährlichen Schockstarre. In dem Maße, in dem der Sender seine Experimentierlust vor zehn Jahren aufgegeben hat und immer noch mehr Castingshows und Help-Formate entwarf, wurde aus dem Überraschungsei RTL erst ein verlässlicher Sender, dann ein Gewohnheitsprogramm. Die ARD versucht, es dem ZDF gleichzutun. Aber die Aussichten für Einsplus sind schlechter, weil die ARD erst viel später und nie so konsequent wie das ZDF mit den Programminnovationen auch eine Onlinestrategie verbunden hat.

Dabei könnten die Mediatheken und Demand-Plattformen die entscheidenden Stellschrauben für eine Richtungsänderung sein. Nicht nur, weil die jungen Nerds alle keinen Fernseher mehr haben, sondern auch, weil das Internet derzeit in unserer allgemeinen Wahrnehmung mit dem Prädikat „heißes Medium“ - um mal den alten McLuhan zu zitieren – kodiert ist. Der gleiche alte Inhalt auf einer neuen modernen Plattform kann in einer „Gesellschaft der Aufmerksamkeit“ ganz neu Karriere machen. Alles, was ich über die Zerstreutheit des Fernsehpublikums gesagt habe, stimmt ja auch für die Rezeptionsgeschichte des Radios. Das war in den 90er Jahren allerorten zum billigen Dudelfunk fürs Autowaschen verkommen. Mit der Möglichkeit, Features und Hörspiele als Podcast auf den mp3-Player zu laden, wurde dem old media Radio in den Nullerjahren unerwartet eine Welle der Aufmerksamkeit zuteil. Zuhören war plötzlich wieder spannend geworden, wenn man es denn nur aus dem Kontext des linearen Programms herauslöste und zu einem Push-Medium machte.

Ich frage mich: Warum sollte das eigentlich nicht auch mit dem Fernsehen gelingen? Gutes Programm gibt es ja genug. Noch jedenfalls.