Meine Damen und Herren,

ich habe wenig Zeit, denn Sie haben wenig Zeit. Früher dauerten Programmpunkte wie meiner mindestens eine halbe Stunde und hießen „Vortrag“, heute ist die Redezeit mit 10 Minuten bemessen, denn dies hier ist eine Keynote. Ich werde Ihnen also Schlüsselreize für die anschließende Diskussion liefern. Keine Angst – wir sind schon mitten drin im Thema! Wir leben im Zeitalter des Zeitmanagements. Für alles, wohin wir unsere Aufmerksamkeit lenken, gibt es eine Alternative: Dieses Panel oder ein anderes. Fernsehen oder Youtube. ARD oder ZDF. Zauberkasten oder Begleitmedium. Hingucken oder wegzappen.

Seit 1999 bin ich in der Jury des Deutschen Fernsehpreises. Wir sichten in jeder Saison mehr als 1200 Programmstunden. Ich sehe deshalb überdurchschnittlich viel fern und überdurchschnittlich viel gutes Programm. Vor allem kurz vor unseren Entscheidungssitzungen komme ich täglich leicht auf jene 223 Minuten, die jeder Fernsehzuschauer statistisch im letzten Jahr täglich fernsah. Aber es ist natürlich etwas völlig anderes, 223 Minuten vor „Rote Rosen“, „Hallo Deutschland“, „Berlin Tag & Nacht“ und „Pures Leben“ zu verbringen als sich nach einer wagemutigen Reportage über die Piraten in Somalia einen dramaturgisch besonderen Fernsehfilm über die Folgen eines Suizides anzusehen und danach noch zwei didaktisch ausgesprochen klug aufbereitete Wirtschafts-Dokumentationen über den Euro in den DVD-Player zu schieben.

Was ich damit sagen will: Aus der Perspektive der Jurorin haben wir keine Programmkrise. Es gibt jedes Jahr weit mehr interessantes Programm als ein Mensch, der über keine Tagesfreizeit verfügt, überhaupt sehen kann. Aber wohlmöglich haben wir eine veritable Publikumskrise. Denn das Publikum hat eine folgenreiche Entscheidung getroffen. Es möchte vor dem Bildschirm nicht mehr gefesselt werden. Es möchte lieber die alten Schinken noch einmal sehen als sich die neuen Serienfiguren draufzuschaffen. Es möchte lieber intellektuell unterfordert als emotional durchgeschüttelt werden. Es sucht mit dem Finger auf der Fernbedienung nicht nach Herausforderungen sondern nach Beiläufigkeit, nicht etwa, weil es dümmer ist als vor zwanzig Jahren. Sondern weil das Fernsehen in der Aufmerksamkeitsökonomie eine gesellschaftliche Abwertung erfahren hat.

Unsere aufmerksamkeitsstarke Wachzeit verbringen wir nun lieber mit ausländischer Serienware, die wiederum so komplex ist, dass sie nur begreift, wer sie als DVD-Exzess in einer Nacht durchschaut. Wenn wir an der Bushaltestelle noch Zeit übrig haben, connecten wir uns in den sozialen Netzwerken mit unseren Facebook-Freunden, die uns an einer anderen Busshaltestelle kleine Youtube-Videos posten, die irgendwann mal Fernsehprogramme waren. So ist ein alter Traum der Medienpädagogen doch noch in Erfüllung gegangen: für kurze Momente machen wir uns selbst unser Programm. Oder soll ich besser sagen: „irgendwas mit Medien“? Wer nach Feierabend noch Energie zum abschalten hat, geht vielleicht ins Multiplex, wo ja neuerdings mehr harmlose Zeitgeist-Komödien laufen als im Pantoffelkino.

Das Fernsehen, einst magischer Anziehungspunkt für unsere kollektive Aufmerksamkeit, ist zu einem Restzeitmedium geworden, das erst eingeschaltet wird, wenn wir für alles andere zu müde, zu zerstreut, zu ausgepowert sind. Und die Programmplaner, die mit ausgeklügelten Strategien unsere Umschaltimpulse ausmerzen und so den Audience Flow optimieren, tragen haben zu dieser Entwicklung viel bei. Wer einmal die Glotze eingeschaltet hat, schaltet viel zu spät und mit dem flauen Gefühl ab, seine Restzeit irgendwie verplempert zu haben. Natürlich können Sie jetzt spontan mindestens zwei Seherlebnisse nennen, die meiner These widersprechen: Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele von London! Der Mehrteiler „Im Angesicht des Verbrechens“! Die Literaturverfilmung „Der Turm“! Sicher.

Dieses alles gibt es, und wenn alle Parameter stimmen – das Wetter nicht zu gut, das Konkurrenzprogramm nicht zu attraktiv, die Hauptdarstellerin nicht zu alt - dann stimmt bei diesen Eventprogrammen auch die Quote. Sicher. Aber Programmalltag ist das nicht. Der Programmalltag wird in Qualität und Quantität bestimmt von etwas, das im Gedächtnis so wenig haften bleibt wie ein Spiegelei an einer Teflonpfanne. Programme, die ich gerne als „Regelfernsehen“ bezeichne, weil sie regelmäßig wiederkehren, mit regulären Budgets produziert sind und in der Regel beim Publikum ankommen. Bei ARD und ZDF ist dieses teflonbeschichtete Regelfernsehen bestimmt von unendlichen Redundanzen, behäbigen Erzählweisen und dazwischen ein paar winzig kleinen Revolutionen. Die Privaten zeigen die Geissens, den Glööckler, die Katzenberger und den Bauer, der immer noch seine Frau sucht.