Wer heutzutage schon über zwölf ist, aber noch unter 20, der zählt zu einer Alterskohorte, die im Grunde erst nach dem Zweiten Weltkrieg erfunden wurde: Teenager. Auch die Pubertät war damals noch ein Begriff, den höchstens Mediziner mal benutzten, um sich das seltsame Gebaren von Halbstarken (Jungs) und Backfischen (Mädels) zu erklären. Kurzum: Bis vor nicht allzu langer Zeit wurden Jugendliche samt ihrer Sorgen und Probleme fast von niemandem wirklich ernst genommen. Für den aufsässigen, aber anlehnungsbedürftigen, also absolut angemessen pubertierenden Teenager Anne Shirley wäre es demnach schon 1950 ein Horror gewesen, 13 zu sein.

Aber 1890?

Besonders auf dem Lande war das ausgehende 19. Jahrhundert eine Zeit moralinsaurer Entbehrungen, die Minderjährigen nur sehr begrenzt Raum zur persönlichen Entfaltung ließ. Gespielt wurde wenig, gearbeitet dauernd, die Kindheit endete früh und ging praktisch nahtlos ins Erwachsenenalter über. Jugendliche Aufsässigkeit war seinerzeit daher ebenso inakzeptabel wie Anlehnungsbedarf oder sonstige Pubertätsallüren. Arme "Anne with an E". So stellt sich die Titelfigur einer neuen Netflix-Serie gern vor, deren fortschrittliche Figurenzeichnung bereits 1908 in Maud Montgomerys Bestseller "Anne of Green Gables" für weltweite Beachtung sorgte und seither bereits ein halbes Dutzendmal verfilmt wurden.

Auch in der jüngsten Version, exklusiv für den Streamingdienst an Originalschauplätzen gedreht, landet das Waisenkind nach einer hoffnungslosen Odyssee durch Gastfamilien und Kinderheime an der kanadischen Ostküste bei den Farmern Marilla und Matthew Cuthbert. Auf deren Farm am Rande der sturmumtosten Atlantikinsel Prince Edward Island könnte es nun einen Neuanfang geben für das herumgestoßene Mündel. Doch die grantige Jungfer und ihr lediger Bruder hatten einen Jungen erwartet, der auf dem Hof mit anpackt, kein Mädchen mit großer Klappe. "Ich kann mir vorstellen, dass ich schon jetzt eine Enttäuschung bin", klagt die aufgeweckte Anne denn auch, als sie Matthew Cuthberts (R. H. Thomson) Enttäuschung gleich bei der Ankunft am Bahnhof spürt. Doch wie nicht anders zu erwarten, kommt alles sehr bald ganz anders.

Denn mit ihrer offenherzigen Art, einem gänzlich unzeitgemäßen Selbstbewusstsein und der Eigenschaft, die Menschen im permanenten Redeschwall entweder abzustoßen oder einzuvernehmen, gewinnt Anne nach und nach zumindest die Herzen all jener, die ihr wichtig sind. Sogar ihre gramgebeugte Pflegemutter (Geraldine James) legt bald den Panzer ab. Und ständig fliegt die Kamera hoch über den "Garten des Golf", wie das steilküstengesäumte Eiland am Sankt Lorenz Strom gern genannt wird. Geigen, Lachen, Happyend? Mitnichten!

Nach dem Drehbuch der der Emmy-prämierten Showrunnerin Moira Walley-Beckett ("Breaking Bad") gelingt es den wechselnden Regisseuren von Niki Caro über Helen Shaver bis Patricia Rozema, gewissermaßen drei Serien miteinander zu kombinieren: Ein dezent, aber sorgsam kostümiertes Historiendrama an der Wende zum vorigen Jahrhundert. Ein leichtes, aber zu keiner Zeit seichtes Gesellschaftsporträt der halbagrarischen Zivilisation in Amerika. Vor allem jedoch: Die Coming-of-Age-Geschichte einer Pippi Langstrumpf des Fin de Siècle, die sich den Mechanismen des Fernsehens in vielerlei Hinsicht widersetzt.

Bevor sie sich langsam als echte Cuthbert zu fühlen beginnt, ist Anne Shirley nämlich weder besonders sympathisch, noch ausgesprochen hübsch, geschweige denn liebenswert. Ihr anämischer Teint verstört beim Zuschauen fast genauso wie ihr unablässiges Philosophieren über alles und jeden. Mit ihrer neunmalklugen Art eckt die feuerrothaarige Außenseiterin auf der pubertären Suche nach Bestätigung selbst bei denen regelmäßig an, die es gut mit ihr meinen. Im Griff einer Nachbarschaft, die Annes familiäre Situation lange als Makel abtun, aber eben auch im Griff der eigenen Wut, heißt Kommunikation bei ihr eigentlich immer: Kampf! Zugleich jedoch verleiht die irische Nachwuchsschauspielerin Amybeth McNulty ihrer frühreifen Titelfigur eine Zerbrechlichkeit im Trotz, der man sich nur schwer entziehen kann.

Für die nötige Balance zwischen Emotionalität und Gefühlsduselei, Nostalgie und Anschlussfähigkeit, "Unsere kleine Farm" und "Oliver Twist" sorgt aber noch etwas anderes: Eine vielfach ungekünstelte Atmosphäre im natürlichen Licht, getragen von reichlich Zeit im Umgang mit der Erzählung und einer geruhsamen Kameraführung. Die acht Teile werden dabei oft von einem Grauschleier überzogen, der selbst die dauernde Luftfahrt über atemberaubende Landschaften ein bisschen entzuckert. Dass menschliche, hygienische, soziale, politische Abgründe jener Ära nicht ständig voyeuristisch zur Schau gestellt werden, wirkt im handelsüblichen Gewaltexzess historischer Serien überdies fast schon entspannend. Und selbstverständlich darf sich "Anne with an E" irgendwann in den süßen Nachbarsjungen verknallen. Für alle was dabei.